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4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Der Wille zur Macht (2/3)
„Zunächst tut die absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat – Plato natürlich –, denn er hat das Gegenteil gelehrt).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 279
„Gegen die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen, hielt sie für schädlich, – und zuletzt: ist es wahrscheinlich, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann?? – Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, – daß sie einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser Stellung zwang. Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer – sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als die pessimistische – sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden, der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den Rücken. Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 280-281
„Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philosophie bisher am meisten aufgehalten worden. “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 281
„Man hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit. Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 281-282
„Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Männern. Das Recht ist bei dem Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen. Kant: ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich. Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches. Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen – wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz – nun, welchen hat er denn?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 282
„Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktioniert. Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner wird. Endlich zum »Mystiker«. Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 282-283
„Meine erste Lösung: die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten und am Anblick, wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden, Zukünftigen, welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute. Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen). Meine Neuerungen. – Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des Intellekts; die moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes. Erkenntnis der Zeichen des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke Handeln; die Kultur isoliert, ist ungerecht und dadurch stark. 1. Mein Anstreben gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues Zentrum. 2. Unmöglichkeit dieses Strebens erkannt. 3. Darauf ging ich weiter in der Bahn der Auflösung – darin fand ich für einzelne neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! – – Ich erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne Wesen sich vollenden können wie nie – ein Abbild und Einzelfall des allgemeinen Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 283-284
„Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen – immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte: – in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem der Vorsokratiker – der bestverschüt teten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 284-286
„Theorie und Praxis. – Verhängnisvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen .... Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern tätig gewesen sind – wie sie allesamt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf etwas losgingen, das für sie »Wahrheit« war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem der erkenntnistheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.). Der sogenannte Erkenntnistrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs– und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt. Die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die Akkumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt) .... Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition, die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert. Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten – Gründe, Argumente; Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht –. »Wie soll gehandelt werden?« – Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden »gehandelt« worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit dieser Moral – Frage sogar ganz komisch vor. »Wie soll gehandelt werden?« – Moral war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte eine Art, die ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte .... »Wie soll gehandelt werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende. – Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte, nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt – Gewißheit des Handelns, zum Teufel geht .... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue Bewußtseins – Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation. – Die Tief – Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt .... Eine Tugend wird mit »um« widerlegt .... Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht mit der Moralität. Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt. Thesis: das, was den Moralisten tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral (– er empfindet das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption). Thesis: die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt – Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind 1. die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen; 2. die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus im Hohen und Geringen; 3. die Instinkte der Habituell – Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb so wenig als möglich Physiologen sein dürfen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 287-290
„Das Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der decadence; die antihellenischen Instinkte kommen oben auf. .. Noch ganz hellenisch ist der »Sophist« – eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen Ionier – ; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren – Recht über jede andere Polis. .... Man tauscht die Kultur, d.h. »die Götter« aus, – man verliert dabei den Glauben an das Allein – Vorrecht des deus autochthonus. Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut und Böse verwischt sich. .... Das ist der »Sophist« ... Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend. Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte Institutionen; er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische Religionen. ...); – er will die ideale Polis, nachdem der Begriff »Polis« sich überlebt hatte ( ungefähr wie die Juden sich als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren). Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force majeure wiederherstellen. Allmählich wird alles Echthellenische verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen – . Schluß: die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.. Die antihellenische Entwicklung des philosophen-Werturteils: – das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht ...); – das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«) ; – die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel, die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem kosmischen All; – das Priesterliche, Asketische, Transzendente; – die Dialektik, – ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei schon in Plato ? – Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet das Häßliche und Klappemde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr. Nebeneinander gehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die üppige, liebenswürdig – boshafte, prunk – und kunstliebende décadence und b) die Verdüsterung des religiös – moralischen Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung, die Vorbereitung des Bodens für das Christentum.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 293-294
„Wie weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral – Idiosynkrasie geht: – niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien Willens« gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie); – niemand hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«) zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch; – niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität (eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität). Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs – Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält, sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral – Philosophen selbst auszeichnet, das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts: sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit .... Die Moral – Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes. Das erste große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht. Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit repräsentieren und kontagiös machen .... Diese gänzlich abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen. Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht über die Moral: – sie stellen die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; – sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten, wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß – ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; – sie stellen die erste Wahrheit hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich« nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem Gebiete zu reden. Wo war nur die intellektuelle Rechtschaffenheit damals? Die griechische Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des Thukydides z.B. ihren Ausdruck. Und – sie hat schließlich recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat die Sophisten restituiert .... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ..., es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm. (Plato: ein großer Cagliostro – man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos, beurteilte. – – Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt: nämlich die Sonder – Existenz und Sonder – Unsterblichkeit der »Seelen«.).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 294-296
„Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang und gäben Werte und Praktiken zum Rang der Werte, – sie haben den Mut, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen .... Glaubt man vielleicht, daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche sich vor Wut und Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides einen Vorwurf aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt, als sie mit den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln? Inmitten dieser entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs möglich – oder Abseits – Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und Auswanderern aus der Realität .... Alles Leute, die negierten, um selber leben zu können. – Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was –. Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral – Standarten erheben – aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu treiben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 296-297
„Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht, noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exerziert, so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Kombinationen unbewußt .... Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? .... Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte, – ohne Unbewußtheit taugt sie nichts! .... Scham erregen war ein notwendiges Attribut des Vollkommenen! .... Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese großen “Tugendhaften” und Wortemacher .... In praxi bedeutet es, daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch – politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe »gut«, »gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie gehören: und als freigewordne »Ideen« Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind, wo sie herkommen .... In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits bei Plato .... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt – vollkommenen Menschen hinzu zu erfinden: – gut, gerecht, weise, Dialektiker—kurz die Vogelscheuche des antiken Philosophen, eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte; eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde »Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Rangs .... Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen – »den Guten«, »den Glücklichen«, »den Weisen«. Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 297-298
„Sokrates. – Dieser Ummschlag des Geschmacks zugunsten der Dialektik ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich? Sokrates ... kam mit ihm über einen vornehmeren Geschmack, den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg: – der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektische Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte; man warnte die Jugend vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte. Unter sich, inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität: und, zu guter Letzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz für Dialektik. Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren seiner Argumente. Alle honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges darin, alle fünf Finger zu zeigen. Was sich »beweisen« läßt, ist wenig wert. – Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überredet, das weiß übrigens der Instinkt der Redner aller Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik kann nur eine Notwehr sein. Man muß in der Not sein, man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs war es, Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt bloß, indem man siegt. Man überläßt seinem Opfer den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos, während man selber kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt, man depotenziert die Intelligenz seines Gegners. Die Ironie des Dialektikers ist eine Form der Pöbel-Rache: die Unterdrückten haben ihre Ferozität in den kalten Messerstichen des Syllogismus. .... Bei Plato, als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei, ist der Zauber des Bgriffs so groß geworden,d aß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform verehrte und vergötterte. Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben – – als Werkzeug des Machtwillens.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 298-300
„Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Prtoblem ableitbar ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder davon los .... Absoluter Mangel an objektivem Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates: morbides Element. Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman ist? – Alle »praktische« Philosophie tritt in Notlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 300-301
„Die décadence verrät sich in dieser Präokkupation des »Glücks« (d.h. des »Heils der Seele«, d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses für »Glück« zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zugrunde gehn war die Alternative, vor der sie alle standen. Der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 302
„Die antiken Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, – was die absolute Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt .... Sie waren konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit, – wäheend das Gegenteil wahr ist. – – –“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 303
„Die antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei .... In praxi lief alles auf Schauspielrei hinaus: – und wer dahinter kam, Pyrrho z.B., urteilte wie jedermann, nämlich: daß in der Güte und Rechtschaffenheit die »kleinen Leute« den Philosohen weit über sind. Alle tieferen Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt; man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen. (Urteil über Plato: seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 303
„Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates (– mit Sokrates verändert sich etwas).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305
„Ich sehe nur noch Eine originale Figur in dem Kommenden: eine Spätling, aber notwendig den letzten, – den NIhilisten Pyrrho: – er hat den Instinkt gegen alles Das, was inzwischen obenauf gekommen war, die Sokratiker, Platon den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyyrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück ...).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305
„Die weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz. Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht .... Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild; apaqeia, mehr noch prauths. Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert: das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme nötig, diese Müden .... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben; die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen .... Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit. Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen Tugenden – beides zusammen hieß damals Philosophie –; absichtlich das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund, noch lebendig, noch tot ist .... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer; Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer .... Sein Leben war ein Protest gegen die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis). Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht »weise« .... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305-307
„Der Kampf gegen Sokrates, Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus, daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man ihm die Tugend als beweisbar, als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist es die mesquine Tatsache, daß der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu verherrlichen und alles übrige Gute als bedingt durch sie darzustellen. Der antiwissenschaftliche Geist dieser ganzen »Philosophie«: sie will recht behalten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 309
„Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral. (Der Haß gegen die Physiker und Ärzte). Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Cyniker, Epikur, Pyrrho – General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral .... (Haß auch gegen die Dialektik). Es bleibt ein Problem: sie nähern sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden Andererseits sind die Physiker alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren Seins in ihre Fundamente aufzunehmen: z.B. das Atom, die 4 Elemente (Juxtaposition eines Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären –). Verachtung gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu dem praktischen Interesse, zur Personal-Nützlichkeit aller Erkenntnis .... Der Kampf gegen die Wissenschaft richtet sich gegen 1) deren Pathos (Objektivität), 2) deren Mittel (d.h. gegen deren Nützlichkeit), 3) deren Resultate (als kindisch). Es ist derselbe Kampf, der später wieder von Seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit geführt wird: : sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie spielt dabei dieselbe Rolle, wie bei Kant, wie bei den Indern .... Man will sich nicht drum zu bekümmern haben: man will die Hand behalten für seinen »Weg«. Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit, gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung, Hand in Hand zu gehen –: ich glaube, man nennt das Freiheit .... Darin drückt sich décadence aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität, keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie hassen das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-Wollen, den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 309-310
„Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war dies – und zwar deshalb, weil die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt, welche mit »gut« und »böse« nichts zu schaffen haben, folglich dem Gefühl für »gut« und »böse« Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will, daß ihr der ganze Mensch und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält es für die Verschwendung eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich genug ist, wenn der Mensch sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert. Deshalb ging in Griechenland, als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in die Wissenschaft eingeschleppt hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit abwärts; eine Höhe, wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates und Thukydides, ist nicht zum zweiten Male erreicht worden.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 310-311
„Der Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft, ersterer schläfert sie ein ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 315
„Die psychologischen Verwechslungen: – das Verlangen nach Glauben – verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z.B. bei Carlyle). Aber ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen zur Wahrheit« (– ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben, aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«). Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker – oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho. Die Vorteile, welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie: – an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich, verhängnisvoll sein –. Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach – z.B. Freiheit von den herrschenden Gewalten. Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens. Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten Macht – mit der Nützlichkeit – mit der Unentbehrlichkeit – kurz mit Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil: ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt .... Was bedeutet z.B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten? – Kritik der »Objektivität«. Warum erkennen: warum nicht lieber sich täuschen? .... Was man wollte, war immer der Glaube – und nicht die Wahrheit .... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen als die Methodik der Forschung –: er schließt letztere selbst aus –.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 316-317
„Nicht Theorie und Praxis trennen!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 319
„Daß nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt –. Was als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnisvoll ehemals verachtet wurde –: alle diese Blumen wachsen heute am lieblichen Pfade der Wahrheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 320
„Diese ganze Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung verdiente. Wir haben sie überlebt .... Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit, daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle beweisen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 320
„Der Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann, – er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedesmal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts zum »Gott«, zur »Wahrheit« und jedenfalls zum Richter und Verurteiler dieses Seins ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 321
„Was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen? ..... Dieses Dasein ist unmoralisch .... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322
„Schaffen wir die wahrte Welt ab: und um dies zu könne, haben wir die bisherigen obersten Werte anzuschaffen, die Moral .... Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden sit. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte von selbst folgen müssen..“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322
„Die scheinbare Welt und die erlogene Welt – ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«. Diese haben wir abzuschaffen. Logik meiner Konzeption: 1. Moral als oberster Wert (Herrin über alle Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker). Resultat: diese Welt taugt nichts, sie ist nicht die »wahre Welt«. 2. Was bestimmt hier den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? – Der Instinkt der décadence; es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen. Historischer Nachweis: die Philosophen sind immer décadents ... im Dienste der nihilistischen Religionen. 3. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Beweis: die absolute Unmoralität der Mittel in der ganzen Geschichte der Moral. Gesamteinsicht: die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322-323
„Prinzipielle Neuerungen: An Stelle der »moralischen Werte« lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral. An Stelle der »Soziologie« eine Lehre von den Herrschaftsgebilden. An Stelle der »Gesellschaft« den Kultur-Komplex, als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen). An Stelle der »Erkenntnistheorie« eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte, deren höhere Ordnung, deren »Geistigkeit«). An Stelle von »Metaphysik« und Religion die Ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 323-324
„Meine Vorbereiter: Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum Gefühl brachte. Sodann: die höheren Europäer, Vorläufer der großen Politik. Sodann: die Griechen und ihre Entstehung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 324
„Ich nannte meine unbewußten Arbeiter und Vorbereiter. Wo aber dürfte ich mit einiger Hoffnung nach meiner Art von Philosophen selber, zum mindesten nach meinem Bedürfnis neuer Philosophen suchen? Dort allein, wo eine vornehme Denkweise herrscht, eine solche, welche an Sklaverei und an viele Grade der Hörigkeit als an die Voraussetzung jeder höheren Kultur glaubt; wo eine schöpferische Denkweise herrscht, welche nicht der Welt das Glück der Ruhe, den »Sabbat aller Sabbate« als Ziel setzt und selber im Frieden das Mittel zu neuen Kriegen ehrt; eine der Zukunft Gesetze vorschreibende Denkweise, welche um der Zukunft willen sich selber und alles Gegenwärtige hart und tyrannisch behandelt; eine unbedenkliche, »unmoralische« Denkweise, welche die guten und die schlimmen Eigenschaften des Menschen gleichermaßen ins Große züchten will, weil sie sich die Kraft zutraut, beide an die rechte Stelle zu setzen, – an die Stelle, wo sie beide einander not tun. Aber wer also heute nach Philosophen sucht, welche Aussicht hat er, zu finden, was er sucht? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er, mit der besten Diogenes-Laterne suchend, umsonst tags- und nachtsüber herumläuft? Das Zeitalter hat die umgekehrten Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit; es will zu zweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm, jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht; es will zu dritt, daß jeder mit tiefster Untertänigkeit vor der größten aller Lügen – diese Lüge heißt »Gleichheit der Menschen« – auf dem Bauche liegt, und ehrt ausschließlich die gleichmachenden, gleichstellenden Tugenden. Damit aber ist es der Entstehung des Philosophen, wie ich ihn verstehe, von Grund aus entgegengerichtet, ob es schon in aller Unschuld sich ihm förderlich glaubt. In der Tat, alle Welt jammert heute darüber, wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaßliche Kirchenväter-Weisheit: die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch günstigere Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist, der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer sieht es schon mit den höheren Künstlern: gehen sie denn nicht fast alle an innerer Zuchtlosigkeit zugrunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch die absoluten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes, tyrannisiert: so lernen sie auch nicht mehr ihren »inneren Tyrannen« großziehen, ihren Willen. Und was von den Künstlern gilt, gilt in einem höheren und verhängnisvolleren Sinne von den Philosophen. Wo sind denn heute freie Geister? Man zeige mir doch heute einen freien Geist! “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 324-326
„Ich verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist – ich behandle die bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes »Wahrheit«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 326
„Nicht der Sieg des Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sonder der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 329
„Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 332
„Es gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 336
„Durch das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im »Ich denke« liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses »Ich« sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag – das allein beweist noch nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 337-338
„Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 340
„Alles, was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 341
„Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen? Meine Hypothesen: Das Subjekt als Vielheit. Der Schmerz intellektuell und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert. Die Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach. Die Lust ist eine Art des Schmerzes. Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern. Die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche Seele«. Die Zahl als perspektivische Form.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 341-342
„Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes –).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 342
„Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 343
„Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 343
„»Der Sinn für Wahrheit« muß, wenn die Moralität des »Du sollst nicht lügen« abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren – als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Macht-Wille. Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 344
„Die bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich – Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 344
„Die Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen« und »außen« – da kommandiert der Leib –? Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 345
„Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, z.B. Gefangene im Gefängnis oder Irre). So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, z.B. Ameisen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 346-347
„Erst Bilder – zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte, angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort« entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten« im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten« entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 347
„Die Wertschätzung »ich glaube, daß das und das so ist«, als Wesen der »Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs– und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren »Wahrheit«. Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. »Die wahre und die scheinbare Welt« – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die »wahre« Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 348
„Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 348
„Zur Entstehung der Logik. – Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zu gleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleichmacht und in seine Formen und Reihen einordnet.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349
„Gleichheit und Ähnlichkeit. 1. Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit; 2. der Geist will Gleichheit, d.h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert. Zum Verständnis der Logik: der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht – der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349
„Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349-350
„Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: – es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei »Substanz«, »Subjekt«, »Objekt«, »Sein«, »Werden«. – Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 350
„Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend .... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird .... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist .... Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit .... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man sie befahl, d.h. wo sie wirkten als befehlend .... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre »Wahrheit«“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 350-351
„Nicht »erkennen«, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut. In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu »erkennen«, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung .... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden .... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird Unübersichtlich –, zu ungleich –. Die Kategorien sind »Wahrheiten« nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen ...). Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt .... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine »Wahrheit an sich« besäßen!... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine »Wahrheit«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 351-352
„Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine »Notwendigkeit« aus, sondern nur ein Nichtvermögen. Wenn, nach Aristoteles, der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff »Wirklichkeit«, für uns erst zu schaffen? .... Um das erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll. Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das »Ding« – das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des »Dinges« .... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine »wahre Welt« (– diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...). Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: – kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können). Hier regiert das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die Dinge lehren – daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Dinge sagen kann, es ist hart und es ist weich. (Der instinktive Beweis »ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben« – ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt... Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 352-354
„Die Annahme des Seienden ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: »das Seiende« gehört zu unsrer Optik. Das »Ich« als seiend (– durch Werden und Entwicklung nicht berührt). Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, »Vernunft« usw. ist nötig –: eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. »Wahrheit« ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: – die Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das »An-sich« der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich). Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar, als »falsch«, als »sich-widersprechend«. Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich muß »Erkenntnis« etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 354-355
„Wenn unser »Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden, so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355
„Wenn es »nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern »Seienden« gemacht sind – wenn schließlich der Glaube an das »Ich« mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas Werdendes erweist: so – ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355
„Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum« usw. zu reden; die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, »Ruhendes« neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des »leeren Raumes« wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den »Augenschein«, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht »begriffen«, nicht »erkannt« werden; nur insofern der »begreifende« und »erkennende« Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie »Erkenntnis«: d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355-356
„Zur »logischen Scheinbarkeit«. – Der Begriff »Individuum« und »Gattung« gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. »Gattung« drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (– eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht – und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...). Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft »dieselbe Form erreicht wird«, so bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist, -sondern es erscheint immer etwas Neues – und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der »Form«. Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne. Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck – hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, – eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein »Tatbestand«). Man soll diese Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden (»eine Welt der identischen Fälle«) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist. Diese selbe Nötigung besteht in der Sinnen-Aktivität, welche der Verstand unterstützt – durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles »Wiedererkennen«, alles Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß die »gleiche Erscheinungswelt« immer wiederkehrt und dadurch den Anschein der Wirklichkeit bekommen hat. Unsre subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor –, wir können nicht mehr anders – und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge etwas über die »Wahrheit«. Wir sind es, die das »Ding«, das »gleiche Ding«, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfach-machen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 356-358
„Grundlösung. – Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut. Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – somit die »ewige Wahrheit« der »Vernunft« glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.). Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 358
„Das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet (– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter die Dinge projiziert! Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen .... »Verkehr« hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 359-360
„Das theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend. Das proton pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt. – Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis« vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis: es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis! »Erkenntnis ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und so ist! Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen« mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit (das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden). Die Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische Ontologie das herrschende Vorurteil. Also der Schluß ist: 1. es gibt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und notwendig halten; 2. der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen; 3. folglich muß er ohne Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle haben! (Kant schließt: 1. es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind; 2. diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft stammen.) Also: die Frage ist, woher unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus, daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß sie ohne Erfahrung überhaupt da sind? Es gibt keine einzelnen Urteile! Ein einzelnes Urteil ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß« es, das ist himmlisch! Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung, vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«! »Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« – Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel. Um die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge durch die reine Vernunft! Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder Erfahrung oder Mathematik. Ein Urteil ist synthetisch: d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen. Es ist a priori: d.h. jene Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen, zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß formgebende Vermögen besitzen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 362-365
„Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 365
„Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 365
„Das Urteil – das ist der Glaube: »Dies und dies ist so.« Also steckt im Urteil das Geständnis, einem »identischen Fall« begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw.. »Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich »nimmt«? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. – Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.. Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. »Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.« Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z. B. in betreff der Kausalität.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 366
„Die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (»omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur«, Descartes); damit ist die mechanische Welt-Hypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm Intellekt steht? – Wäre es nicht anders? Daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet wird? – Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren .... »Wahr«: von seiten des Gefühls aus –: was das Gefühl am stärksten erregt (»Ich«); von seiten des Denkens aus –: was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt; von seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus –: wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist. Also die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben an dessen »Wahrheit«, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas gibt, dem hier widerstanden wird.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367
„Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367
„»Wahrheit«: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedner Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen »Tyrannen«, beseitigt und »widerlegt« werden können. Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, – warum sollte sie deshalb schon »wahr« sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Grenzen als Grenzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker- Optimismus habe ich schon lange den Krieg erklärt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367-368
„Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins noch auch nur reduzierbar auf Eins.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368
„Was ist Wahrheit? – Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368
„Erster Satz. Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere – als Dogma: simplex sigillum veri. – Dico: daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommne Kinderei .... Zweiter Satz. Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung .... Dritter Satz. Die Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel – nicht als Wahrheit .... Später wirkte sie als Wahrheit ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368-369
„Parmenides hat gesagt: »man denkt das nicht, was nicht ist«; – wir sind am andern Ende und sagen: »was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369
„Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen –: und folglich gibt es vielerlei »Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369
„Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? .... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369
„In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt). Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott« nach seinem Bilde. Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369-370
„Die Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen – Macht gegen Macht, ganz roh –, in der organischen beginnt die List; die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener [? Anm. HB]), die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen .... Problem des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal .... Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem Leben; der Irrtum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht« wird, muß schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des Gleichen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 370
„Ich glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet. Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen« sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können nicht »Ursachen« sein!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 370-371
„»Subjekt«, »Objekt«, »Prädikat« – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's, der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft »hat«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 371-372
„In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung“, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetzt); und dieser letztere Glaube sit sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube ürbigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zur irgendwelchem Subjekte. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 372
„Ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 372
„»Ursache« kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser »Verständnis eines Geschehens« bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl, unser »Freiheits«-Gefühl, unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff »Ursache« zusammengefaßt: causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 373
„Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde, dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht – alles inhäriert der Konzeption »Ursache«. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und »Ursubjekt«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 373-374
„Aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis (– das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn negiert.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374
„In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzuerfunden zum Geschehen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374
„Die Kausalitäts-Interpretation eine Täuschung .... Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrigbehalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen (Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374
„Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität von uns in jedes Geschehen projiziert wurde –: sie liegt in der Wiederkehr »identischer Fälle«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374-375
„Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann .... Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, – ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern nach Bekanntem.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375
„Zur Bekämpfung des Determinismus und der Teleologie. – Daraus, daß etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht, daß es notwendig erfolgt. .... Die »mechanische Notwendgkeit« ist kein Tatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert. .... Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375
„Erst dadurch, daß wir Subjekte, »Täter« in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwange ist, – ausgeübt von wem? wiederum von einem »Täter«. Ursache und Wirkung – ein gefährlicher Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf das gewirkt wird.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375
„Die Notwendigkeit ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376
„Hat man begriffen, daß das »Subjekt« nichts ist, das wirkt, sondern nur eine Fiktion, so folgt vielerlei.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376
„ Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und in den Sensations-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376
„Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376
„Geben wir den Begriff »Subjekt« und »Objekt« auf, dann auch den Begriff »Substanz« – und folglich auch dessen verschiedene Modifikationen, z.B. »Materie«, »Geist« und andere hypothetische Wesen, »Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs« usw.. Wir sind die Stofflichkeit los.–“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377
„Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377
„Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-machen, ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben ins Seiende. »Wahrheit« ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, – nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den »Willen zur Macht«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377
„Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierund, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des Lebens.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377
„Der mensch projiziert seinen Trieb zur Wahrheit, sein »Ziel« in einem gewissen Sinne außer sich als seiende Welt, als metaphysische Welt, als »Ding an sich«, als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser »Glaube« an die Wahrheit) ist seine Stütze.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378
„Sobald wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als Absicht zulgen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann jemandenm der durch uns und mit uns etwas erreichen will.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378
„Das »Wohl des Individuumns« ist ebenso imaginär als das »Wohl der Gattung«: das erstere wird nicht dem letzteren geopfert, Gattung ist aus der ferne betrachtet etwas ebenso Flüssigens wie Individuum. »Erhaltung der Gattung« ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung auf dem Wege zu einer stärkeren Art.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378
„Thesen. – Daß die anscheinende »Zweckmäßigkeit« (»die aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit«) bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur Macht ist –: daß das Stärker-werden Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen –: daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringe Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378
„Gegen die anscheinende »Notwendigkeit«: – diese nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas anderes ist. Gegen die anscheinende »Zweckmäßigkeit«: – letztere nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel. “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378-379
„Ein »Ding an sich« ebnso verkehrt wie ein »Sein an sich«. eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«. sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 381
„Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften – x – als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 383
„»Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso – die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding an sich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt. In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich Bewegung sein: also Form des Seins. NB. Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung). Beide soll man nicht durcheinanderwerfen. Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren – bis hinauf zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der Zwecke und nie physikalisch!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 383-384
„Unser »Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein »An sich«. Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehn: – d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 384-385
„Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein? Der größeren Macht entspricht ein anderes Bewußtsein, Begehren, ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt. – Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht, eine Analogie “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 385
„Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort »Erkenntnis« Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt alle unsre Wertempfindungen (d. h. eben unsre Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, d. h. an unsren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen »Wahrheiten«, die schlechterdings nicht »erkannt« werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer andern Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 385-386
„Die »wahre Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 386
„Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit« ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die »scheinbare Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt« ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze .... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden .... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt. Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein wesentliches Sein – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein .... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 386-387
„Kritik des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«. – Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet. Die »Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw.. »Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns ..., die Welt, abgesehen von unsrer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt »an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent. Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch es aushalten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 387-388
„Unsre psychologische Optik ist dadurch bestimmt: 1. daß Mitteilung nötig ist und daß zur Mitteilung etwas fest, ver-einfacht, präzisierbar sein muß (vor allem im sogenannten identischen Fall). Damit es aber mitteilbar sein kann, muß es zurechtgemacht empfunden werden, als »wiedererkennbar«. Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisiert; 2. die Welt der »Phänomene« ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die »Realität« liegt in dem beständigen Wieder-kommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können; 3. der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht »die wahre Welt«, sondern die formlos-unformulier bare Welt des Sensationen-Chaos – also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns »unerkennbare«; 4. Fragen, wie die Dinge »an sich« sein mögen, ganz abgesehen von unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge gibt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen – und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was »Dinge setzt«, allein real ist; und ob nicht die »Wirkung der äußeren Welt auf uns« auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist .... Die anderen »Wesen« agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte gibt – daß »Objekt« nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein Modus des Subjekts.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 388-389
„Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird – man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine »Welt«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 389
„Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: – er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr »Idee«, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff »Wirklichkeit« herum und sagte: »Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der ›Idee‹ kommen, um so näher der ›Wahrheit‹«. – Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! – er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute »Sein«, »Ursächlichkeit« und »Gutheit«, »Wahrheit«, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt. Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 389-390
„Die Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich, geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu, als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind .... Die Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter: die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte –. Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung mit Goethe – wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe fühlbar macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 390-391
„Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 391
„Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; – diese Welt ist bedingt: – folglich gibt es eine unbedingte Welt; – diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; – diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt: – lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch. Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? Und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen: 1. Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich? 2. Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich? (Lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und ins »An-sich« projiziert). Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? .... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet – weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, »muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« – Vernunft somit als eine Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: – diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht »bewiesen«, was sie behauptet). Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will –. Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkuptaion durch Schein und Irrtum. Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«, im »Glauben«).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 393-395
„Inwiefern die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten Lustgefühle (»Wertgefühle«) auch als entscheidend über das Problem der Realität! – Das Maß positiven Wissens ist ganz gleichgültig oder nebensächlich: man sehe doch die indische Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel an Kategorien nicht nur für eine »Welt an sich«, sondern Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist. »Absolute Realität«, »Sein an sich« ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist »Realität« immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung auf Grund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo desWerdens. Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff »Werden« geleugnet wird. (»Etwas« wird.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 395
„Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 397
„Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben. Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 398
„Der »Wille zur Wahrheit« wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran –. Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: – sie stellt einen Sieg über die Moral dar.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 398
„Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehn .... Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze Verhängnis da: 1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige); 2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...). Die ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte. Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft ... war 1. in ihren Objekten verurteilt, 2. um ihre Unschuld gebracht .... In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein sollen« ist eine Farce .... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser! – Wir sehen, wie die Moral a) die ganze Weltauffassung vergiftet, b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet, c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt). Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 400-401
„A. Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich wider-spricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt – eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel – Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das »Ich« als scheinbar, als nicht-real.) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? – Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück? – Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt: – woher diese Wertung des Bleibenden; Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. – Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, – sie sind Betrüger, Betörer, Vernichter. – Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für: Weg zum höchsten Glück. In summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrtum, – diese unsre Welt sollte nicht existieren. Der Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens .... Was für eine Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nötig; mehr noch, sie würde es verachten, als tot, langweilig, indifferent .... Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. »Wille zur Wahrheit« – als Ohnmacht des Willens zum Schaffen. Erkennen, daß etwas so und so ist:{Antagonismus in den Kraft-Graden der Naturen. Tun, daß etwas so und so wird: Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen.»Wille zur Wahrheit« auf dieser Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört. Dieselbe Spezies Mensch, noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des »Umsonst« ist das Nihilisten-Pathos – zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten. Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei. Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert. Das philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste; die »Erkennenden«, welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, wie es sein soll. Die Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von dem fest, was sein soll, – sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist. Zusammenhang der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch (– sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten Dingen bei –). Zusammenhang der Philosophen mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen (– die moralische Weltauslegung als Sinn nach dem Niedergang des religiösen Sinnes –). Überwindung der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die scheinbare Welt, als die einzige, zu vergöttlichen und gutzuheißen. B. Der Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender Schwäche: teils, daß die Kraft, zu schaffen, zu wollen, so gewachsen ist, daß sie diese Gesamt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (»nähere Aufgaben«, Staat usw.); teils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben an einen »Sinn«, der »Unglaube«. Was die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet? 1. Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren-können heilender, tröstlicher Illusions-Welten; 2. als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend. C. Der Glaube an die Wahrheit, das Bedürfnis einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Wertgefühlen. Die Furcht, die Faulheit. Insgleichen der Unglaube: Reduktion. Inwiefern er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht gibt (– dadurch werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet worden sind).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 401-405
„Die »wahre« und die »scheinbare Welt« A. Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art: a) eine unbekannte Welt: – wir sind Abenteurer, neugierig – das Bekannte scheint uns müde zu machen (– die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns »diese« Welt als bekannt zu insinuieren ...); b) eine andre Welt, wo es anders ist: – es rechnet etwas in uns nach, unsre stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, – vielleicht wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft .... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst – wer weiß? anders sind .... c) eine wahre Welt: – das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so vieles an das Wort »wahr« ankrustiert, unwillkürlich machen wir's auch der »wahren Welt« zum Geschenk: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (– aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht –). Der Begriff »die unbekannte Welt« insinuiert uns diese Welt als »bekannt« (als langweilig –); der Begriff »die andre Welt« insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte, – hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (– unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen –); der Begriff »die wahre Welt« insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche – und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt (– unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben). Wir entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt: a) mit unsrer Neugierde – wie als ob der interessantere Teil woanders wäre; b) mit unsrer Ergebung – wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, – wie als ob diese Welt keine Notwendigkeit letzten Ranges sei; c) mit unsrer Sympathie und Achtung – wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlauter, als gegen uns nicht redlich .... In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur Kritik der »bekannten Welt« gemacht. B. Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind – nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein; a) die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu machen zu »dieser« Welt, – als eine vielleicht stupide und geringere Form des Daseins; b) die andere Welt, geschweige, daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen; c) die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsre Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andre Welt die »scheinbare« sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz, gedacht –). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? Das ist etwas andres als eine unbekannte Welt – das ist bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die »andere«, die »unbekannte« Welt – gut! aber sagen »wahre Welt« das heißt »etwas wissen von ihr«, – das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt .... In summa: die Welt x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger sein als diese Welt. Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden .... C. Problem: warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist – worauf das weist? – Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre ....Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist – daß man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre« nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«: der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind – daher stammt die »wahre« Welt; der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet – daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche« Welt; der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert – daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt. Das Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff, die physiologischen Verwechslungen. Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils. Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens .... Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die »andre Welt« geschaffen. Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 405-409
„Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein »Sein an sich«, keine Kriterien für »Realität«, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit, gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben. Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft; – vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 409-410
„Die Wissenschaft – das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« – also aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. – Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. – Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral – und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als Erkennende.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 411
„Keine »moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet – vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 412
„Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres »leeren Raumes«, einen Zuwachs unserer »Öde«“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 414
„Was kann allein Erkenntnis sein? – »Auslegung«, Sinn-hineinlegen – nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 414
„Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 415
„Die Entwicklung der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in ein Unbekanntes auf: – sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur »Erkennen« als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß »Erkennen« eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«, so wenig ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«. »Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 415-416
„Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 416
„Wissenschaft – Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur – das gehört in die Rubrik »Mittel«. Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 416
„Die Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 417
„Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 418
„Rekapitulation: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht. Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw. Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins – Gipfel der Betrachtung. Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war. Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.). »Das Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende –. Erkenntnis an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung. Werden als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt, sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«. Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend. Was alles Leben zeigt, als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.Anstatt »Ursache und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden. Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend. Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie – gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit. Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h. Sinnlosigkeit. Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien. Voraussetzung: Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts. (NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten verhaltend, aus der Fülle heraus.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 418-419
„Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 421
„Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 422
„ES gibt nicht Unveränderliches in der Chemie.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 422
„Illusion, daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 424
„Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermutung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425
„Ich hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, – hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor »Gesetzen«!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425
„Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«, sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein«. – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen .... Die Trennung des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425-426
„Die »Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso »Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz« entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 426
„Zwei aufeinanderfolgende Zustände, der eine »Ursache«, der andere »Wirkung« –: ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat nichts bewirkt. Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 426-427
„Kritik des Mechanismus. – Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe »Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge (– das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges .... Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität« in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren –. Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit. Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken. Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt – eine Welt fürs Auge – ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert, daß etwas bewegt wird – hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt – d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 427-428
„Wir haben »Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff – unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): – sie hat ein Sinnen-Vorurteil und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung. Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht. Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), – so, daß sie berechnet werden kann, – daß ursächliche Einheiten fingiert sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt (– Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs (Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsre Psychologie immer noch darin. Eliminieren wir diese Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken« auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 428-429
„Die Physiker glauben an eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen – so daß für sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein notwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht – »subjektiv« ge macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus – ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen .... Und zuletzt haben sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet .... Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen – in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«, hinzugekommen; – aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein, das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem. Der Perspektivismus ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind: – so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 427-428
„Auch im Reiche des Unorganischen kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspektivischen und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch« ist.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 428-429
„Gesetzt, die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt – also neben der Kausalität hintereinander wäre eine Abhängigkeit neben– und miteinander gegeben“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 429-430
„Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten, wäre: Gott nicht als treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als eine Epoche –: ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht: aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte. Mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesamt-Werdens konstant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf. Dieser »Wille zur Macht« drückt sich in der Ausdeutung, in der Art des Kraftverbrauchs aus: – Verwandlung der Energie in Leben und »Leben in höchster Potenz« erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung verschiedenes. Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht .... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes .... Daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist .... Die absolute Nezessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf, wie in allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft- Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist; – Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 431-432
„»Leben« wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellung, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits zugleich wachsen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 433
„Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 433
„Die größte Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder – wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend. Der »Geist« ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienst des höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 434
„Gegen den Darwinismus. – Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden. Was ist zuletzt »nützlich«? Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z.B. was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält und sich nicht vergeudet. – Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer Teile. Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet –. Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 435-436
„»Nützlich« in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich« als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436
„»Nützlich« im Sinne der darwinistischen Biologie – das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436
„Die Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb« als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine der Konsequenzen davon. – Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436
„Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt .... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: »Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich komplizierteren Organismen (– Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436-437
„Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes – erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille zur Macht ganz andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das Aneignungsbedürfnis des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfnis des Verlorenen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 437
„Der Trieb, sich anzunähern, – und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist ein Vorurteil. Der Wuille zur Macht in jeder Jraft-Kombination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere, ist richtiger. NB. Die Prozesse als »Wesen«. “ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438
„Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben). »Hunger« ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438
„Der Leib als Herrschaftsgebilde. – Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion. Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. »Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht. Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren. Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei. »Mechanistische Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären. Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen. Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –). Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438-439
„Am Leitfaden des Leibes. – Gesetzt, daß die »Seele« ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«, seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen – für diesen Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse. Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« – Umgekehrt haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung (und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein! – Hier ist nachzudenken: – Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß, wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer – welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 440-441
„Warum alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 441-442
„Schaffen – als Auswählen und Fertig-machen des Gewählten. (Bei jedem Willensakte ist dies das Wesentliche.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 442
„Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 443
„Die Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes geschehen sei – kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck« eine Illusion sei.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 446
„Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 448
„Ich erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen: – Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 450
„In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen »Tugend«, »Selbstlosigkeit« und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität zu studieren .... Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung. Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man »Leib« und »Fleisch« nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird – das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären! Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten. Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: – und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel! Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 450-451
„Wert alles Abwertens. – Meine Forderung ist, daß man den Täter wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«, die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat. Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne« sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen – und dazu auch die Mittel wollen. Der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Tun und Wollen ist eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind .... Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht. Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch im Dienste dieses Willens. Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein sagen, tun wir immer noch, was wir sind. Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt. Es ist symptomatisch.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 451-452
„Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle »Freiheit des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 453-454
„Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«). Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung. – Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den »Leib« zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 457
„Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 457-458
„Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.) Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr »Äußeres« sich unterwirft und einverleibt. Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen fort (– der »an sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang-und Ständeordnung).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 458
„Mit der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 458
„Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 459
„Anti-Darwin. – Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation – oder aber die Degenereszenz. Und alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht »dénaturer la nature«. Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht. Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist...); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus erlangt seien. Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben. Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an. Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen. – Modifikation durch Klima und Nahrung: – aber in Wahrheit gleichgültig. Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 459-460
„Meine Gesamtansicht. – Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben. Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren .... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort »höherer Typus« nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents .... Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein »Glücksfall« .... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach am Begriff »höherer Typus«: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität – eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das »Genie« ist die sublimste Maschine, die es gibt – folglich die zerbrechlichste. Dritter Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht tief .... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ). Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur« ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 460-461
„Anti-Darwin. – Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, – vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel .... So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich/Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren (ich glaube, es sind sogar die Unteren! Anm HB) sind mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben – und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser nicht sein, als sein.« Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben .... Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, – nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. – Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen? Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt. Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind, – ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu er klären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist. Ich finde die »Grausamkeit der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles. In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen .... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 462-464
„Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft; – alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum, je mehr es zukunftbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. – Die Vereinzelung des Individuums darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 464
„Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze Kette noch, mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 464
„Meine Theorie wäre: – daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks« (nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt nach Macht, nach mehr in der Macht«; – Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit – (– es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –); daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem gibt. In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an Kraft ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 465
„Es ist eine bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen .... Der Satz des Spinoza von der »Selbsterhaltung« müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegenteil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 465
„Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 466
„Nicht bloß Konstanz der Energhie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen, Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-wollen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 466
„Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen? »Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen« – »Ein permanentes Gesetz der Dinge« – »Eine invariable Ordnung«? – Weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467
„Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«, kein »Gesetz«, keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467
„Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung, d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«, sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen. Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft –; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467
„Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als »werdend« verstehn wollen, noch weniger als geworden. .... Der »Wille zur Macht« kann nicht geworden sein.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467-468
„Ist »Wille zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit dem Begriff »Wille«? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der »Wille«, von dem Schopenhauer meint, er sei das »An sich der Dinge«? Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat –: das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er »Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um einen »Willen zum Leben«: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht; – es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 468
„Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein? – Aber wer fühlt Lust? .... Aber wer will Macht? .... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 468-469
„Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion ein Ingrediens von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und stärkt den Willen zur Macht!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469
„Wenn Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr« ins Bewußtsein träte .... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen, – nicht an Lustzuständen .... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein tritt. Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, – der Vergleich schwächt jetzt die Lust.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469
„Nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen, – die absurde psychologische Falschmünzerei der nächsten Dinge –), sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist. – »Der Glückliche«: Herdenideal.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469-470
„Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens. (Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470
„Der Schmerz ist etwas anderes als die Lust, – ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil. Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust« noch nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht. Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes. Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird, – das Urteil »schädlich«, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die wehtut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z. B. von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, – und wir sind verloren). Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung z.B.), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Schocks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, – die Lust ist durchaus keine Krankheit. Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle – aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon empfangen haben. Daß infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen. Man reagiert, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache« von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere Reaktion – beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470-472
„Intellektualität des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum. Ob es Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht das Individuum leidet –?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473
„»Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser, als deren Sein« – »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht« – dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus! Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Wert – ein in Form des Gefühls redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«, »schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen. Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473
„Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung – was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt... Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus. Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht – nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: – das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden. Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung unsres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt – das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens zur Macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473-474
„Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und b) Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen Reizung. Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren .... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg. Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten – die des Einschlafens und die des Sieges – nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille – es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis – und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 474-475
„Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach Glück« z.B. – was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben« ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?« – aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze« voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt – das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt verändert, nach Glück? – Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend aufsucht. – Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander? Um »Glück«? – Um Macht! .... Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit (die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) – der Mensch, im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar, – nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß er nach Glück gestrebt habe?“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 475-476
„Indem ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus dem freien Willen«! Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit (– Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder Künstler versteht mich).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 476
„»Der Wert des Lebens.« – Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, – das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 476
„Die »bewußte Welt« kann nicht als Wert-Ausgangspunkt gelten: Notwendigkeit einer »objektiven« Wertsetzung. In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Wert anzusetzen: und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen. Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen, gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt. Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich .... Die »Verneinung des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung! Das Dasein als große Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck – die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen Mittel –: wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir – statt nach dem Zweck zu suchen, der die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt – von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher Gesamtzweck wünschbar ist .... Der Grundfehler steckt nur darin, daß wir die Bewußtheit – statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen – als Maßstab, als höchsten Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum, – weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«, »Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt werden müßte .... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung, – damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen .... Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 477-478
„Vom Wert des »Werdens«. – Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie und wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher notwendig wird, ist durch jenes Grundfaktum widerlegt. Ich suche ein Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit« nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen. Dazu ist nötig, ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«, zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von Unlust und Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens« erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende Macht (– ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium« und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen – weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen); insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind. Damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist (– die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige Welt«, das »Ding an sich«). 1. Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«. 2. Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein. 3. Das Werden ist wertgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 478-480
„Daß wir nicht unsere »Wünschbarkeiten« zu Richtern über das Sein machen! Daß wir nicht auch Endformen der Entwicklung (z. B. Geist) wieder als ein »An-sich« hinter die Entwicklung placieren!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 480
„Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl– und Maß-Skala der Kraft aufzubauen wäre .... Alle sonstigen »Werte« sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. – Sie sind überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft. Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes. Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.)“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 480
„Wo der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: – Daß im »Prozeß des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht –) gar nicht gibt; daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existiert; daß die »Notwendigkeit«, die »Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche Scheinbarkeiten sind; daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins« das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und Unlust; daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtwerden selbst nur ein Mittel ist –); daß die Welt durchaus kein Organismus ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit« nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist; daß alle »Wünschbarkeit« keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 481
„»Gott« als Kulminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Wert-Höhepunkt, sondern ein Macht-Höhepunkt. Absoluter Ausschluß des Mechanismus und des Stoffs: beides nur Ausdrucksformen niedriger Stufen, die entgeistigtste Form des Affekts (des »Willens zur Macht«). Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu organisieren hat, ihre Kraft verwendet zu desorganisieren .... a) Die immer größere Besiegung der Sozietäten und Unterjochung derselben unter eine kleinere, aber stärkere Zahl; b) die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich Anarchie der Elemente“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 482
„Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag – der Mensch: nicht die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißratenen: ein Trümmerfeld.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470
„Der Gesichtspunkt des »Werts« ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens. Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist »das Seiende« erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen). »Herrschaftsgebilde«; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung –) periodisch abnehmend, zunehmend. »Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren (»Vielheiten« jedenfalls; aber die »Einheit« ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden). Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das »Werden« auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von »Dingen« usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist .... Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 482-483
„Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut zu seinen Begierden zu haben .... Der ganze »Altruismus« ergibt sich als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch« gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht: »Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.« Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft« hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung. Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.«“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 484-485
„Der Staat oder die organisierte Unmoralität – inwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache. Wie wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands-und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 485
„Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen, oder auch nur zu –, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.). – Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider seine Natur; – insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur. Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber – und der, der das Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer – und die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 485-486
„Eine Arbeitsteilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin). Zur Rechtfertigung der Moral: die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen); die ästhetische (die Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus); die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten); die psychologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zugunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind – zur Erhaltung der Schwachen).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 486
„Das furchtbarste und gründlichste Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht – man nennt diesen Trieb »Freiheit« – muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische Individuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den Herden-Machtinstinkt.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 486
„Das Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit: als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...); als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisierung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und indirekte Selbstverklärung); als Fatalismus, Resignation; als »Objektivität«; als Selbsttyrannisierung (Stoizismus, Askese, »Enselbstung«, »Heiligung«), als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei; als »schöne Seele«, »Tugend«, »Selbstvergötterung«, »Abseits«, »Reinheit von der Welt« usw. (– die Einsicht in das Unvermögen zur Macht sich als dédain verkleidend). Überall drückt sich das Bedürfnis aus, irgendeine Macht doch noch auszuüben, oder sich selbst den Anschein von Macht zeitweilig zu schaffen – als Rausch. Die Menschen, welche die Macht wollen um der Glücks-Vorteile willen, die die Macht gewährt: politische Parteien. Andre Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit sichtbaren Nachteilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiösen. Andre Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andre Hände fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487
„Kritik der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß. – Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück als die Kontinentalen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487
„Die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene »Gleichheit« mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487-488
„Was »nützlich« heißt, ist ganz und gar abhängig von der Absicht, dem Wozu?; dieAbsicht, das »Ziel« wieder ist ganz und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage, sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit für alle zu bringen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 488
„Erstmals hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit: jetzt hat man die Praxis dazu! – Die Zeit der Könige ist vorbei, weil die Völker ihrer nicht mehr würdig sind: sie wollen nicht das Urbild ihres Ideals im König sehn, sondern ein Mittel ihres Nutzens. – Das ist die ganze Wahrheit!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 488
„Moral wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen (verpanzert; stoisch). Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen: er ist angreifend. Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten Federn und Haare).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 489
„Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides – und das zweite noch mehr als das erste – sind Nezessitäten für jedes Lebendige – der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität des Lebens selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben – aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen – Wachstums-Recht etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 489-490
„Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll).“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 490
„Damit etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert sind, wenn ich jenes Werk (z.B. die poliV) garantiere. Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird als die von oben nach unten. Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten? Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 490-491
„Das Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang. »Je größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde zu gehen.«“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 491
„Bei den Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbartsen Sinne des Wortes »Ehe«, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebensowenig, als es sich dabei um Geld handelt – aus der Liebe läßt sich keine Institution machen –: sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung aneinander erteilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter Wille – Wille zur Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander – – zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. – Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es heute noch Adel? Quaeritur) – also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihm – der Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die Liebe als Passion – nach dem großen Verstande des Wortes – für die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am größten waren.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 491-492
„Zur Zukunft der Ehe: – eine Steuer-Mehrbelastung (bei Erbschaften), auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde); Vorteile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit von Stimmen; ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (»Familien-Geschichte« –); als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisiert (auf Jahre, auf Monate), mit Garantie für die Kinder; jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl Vertrauensmänner einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 492-493
„Auch ein Gebot der Menschenliebe. – Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu tun? – Solche zur Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen« (– auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört. .... Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser tut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten – sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Kastrationen in Bereitschaft halten. – Das Bibel-Verbot »du sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht zeugen!«... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein »gleiches Recht« zwischen gesunden und entartenden Teilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zugrunde. – Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißratenen – das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 494-494
„Wir lernen in unsrer zivilisierten Welt fast nur den ... Verbrecher kennen ....“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 494
„Inmitten unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt .... Es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Straf-Aussicht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 495
„Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mi Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgendein Verbrechen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 498
„Ja, die Philosophie des rechts. Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische Wissenschaft noch nicht einmal in der Windel liegt!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500
„Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so hätten sie viele Gesetze.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500
„Schopenhauer wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet. Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde, also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte sich die menschliche Natur .... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige; es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500-501
„Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchtender eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt! .... Und das »neue Reich«, wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen. Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der »Zwecklosigkeit« –! Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei .... Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört: eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen die Rach– und Nachgefühle. Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend –.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 502-503
„Die verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der »Staat«, als Hericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 503
„»Der Wille zur Macht« wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! und Alexander! – Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären! Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn – er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 503-504
„Ich bin abgeneigt 1. dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom »Guten, Wahren, Schönen« und von »gleichen Rechten« träumt (auch der Anarchismus wll, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal!); 2. dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das Herdentier sich zum Hernn macht.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 504
„Die Bewaffnung des Volkes – ist schließlich die Bewaffnung des Pöbels.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 504
„Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom »guten Menschen«, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige »Ordnung« abgeschafft hat und alle »natürlichen Triebe« losläßt. Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewalttat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. »,Ich und meine Art' will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet« – ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung. Man haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen mehr als die Monarchen. Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß nur als Maske.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505
„Wie verräterisch sind alle Parteien! – sie bringen etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel gestellt ist.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505
„Der moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505
„Die Sklaverei in der Gegenwart: eine Barbarei! Wo sind die, für welche sie arbeiten? Man muß nicht immer Gleichzeitigkeit der beiden sich komplementierenden Kasten erwarten. Der Nutzen und das Vergnügen sind Sklaven-Theorien vom Leben: der »Segen der Arbeit« ist eine Verherrlichung ihrer selber. – Unfähigkeit zum otium.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505
„Man hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 506
„Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.“ Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 506
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