Nietzsche (Ausw. Brune) 5

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Quelle: hubert-brune.de/nietzsche_aphorismen_sp.html


Inhalt

1.1
Vorphilosophie, 1856

2.1
Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872
2.2
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872
2.3
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872
2.4
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874
2.5
Schopenhauer als Erzieher, 1874
2.6
Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876

3.1
Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880
3.2
Nachgelassene Fragmente, 1880
3.3
Morgenröte, 1881
3.4
Die fröhliche Wissenschaft, 1882

4.1
Also sprach Zarathustra, 1883-1885
4.2
Nachgelassene Fragmente, 1884
4.3
Versuch einer Selbstkritik, 1886
4.4
Jenseits von Gut und Böse, 1886
4.5
Zur Genealogie der Moral, 1887
4.6
Götzen-Dämmerung, 1889
4.7
Der Fall Wagner, 1888
4.8
Der Antichrist, 1889
4.9
Ecce homo, 1889
4.10
Dionysos-Dithyramben, 1889
4.11
Nietzsche contra Wagner, 1889
4.12 Der Wille zur Macht
[1] [2] [3], posthum ab 1901
4.13
Aus dem Nachlaß



4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Also sprach Zarathustra

„I c h   l e h r e   e u c h   d e n   Ü b e r m e n s c h e n .   Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 8

„Seht! Ich zeige euch den  l e t z t e n   M e n s c h e n . Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13

„Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13-14

„Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren ? Wer noch gehorchen?  Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch; aber man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 14

„»Nicht doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 16

„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein. .... Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen. Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen. .... Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n   Willen will nun der Geist,  s e i n e   Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 25-27

„Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben – denn du wirst an ihnen zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 40

„Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? Ihr alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen. Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 52-53

„Überall ertönt die Stimme derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. Oder »das ewige Leben«: das gilt mir gleich, – wofern sie nur schnell dahinfahren!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 53

„Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 54

„Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bogen hat: sonst schwätzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„Vom neuen Götzen. – Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide. Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! »Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes« – also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden! Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen – das kalte Unthier! Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen. Ködern will er mit euch die Viel-zu Vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren! Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes! Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord aller – »das Leben« heisst. Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl – und alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen. Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld – diese Unvermögenden! Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es – als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme. Wahnsinnige sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheisse. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener. Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer! Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut! Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat  a u f h ö r t – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 57-60

„Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstloses«.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 75

„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei, und an deinen sieben Teufeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 78

„Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andere ist Thorheit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 81

„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 82

„Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen d a r f ?  Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich. Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung. Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele. Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen. Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 86

„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: »stirb zur rechten Zeit!« Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen. Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil  i c h will. Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.“

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 89-90

„Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht E n t a r t u n g ?  – Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für mich.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 94

„Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei seine beste Hilfe, dass er den mit Augen sehe, der sich selber heil macht.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96

„Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen – und aus ihm der Übermensch.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96-97

„Der Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, daß ich den großen Mittag mit euch feiere. Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, daß er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 97-98

„ » T o d t  s i n d  a l l e  G ö t t e r :  n u n  w o l l e n  w i r ,  d a s s  d e r  Ü b e r m e n s c h  l e b e . «  –   diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 98

„Könntet ihr einen Gott  s c h a f f e n ? –  So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 105

„Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen? Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist! Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.« Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: »Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.« “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 111

„Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich - allzumenschlich!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 115

„Von den Taranteln. – Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend! Also rede ich zu euch im Gleichnis, die ihr die Seelen drehend macht, ihr Prediger der  G l e i c h h e i t ! Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige! Aber ich will eure Verstecke schon ans Licht bringen: darum lache ich euch ins Antlitz mein Gelächter der Höhe. Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wut euch aus eurer Lügen-Höhle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort »Gerechtigkeit«. Denn d a s s  d e r  M e n s c h  e r l ö s t  w e r d e  v o n  d e r  R a c h e :  das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache« – also reden sie mit einander. »Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind« – so geloben sich die Tarantel-Herzen. »Und ›Wille zur Gleichheit‹ – das selber soll fürderhin der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser Geschrei erheben!« Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte! Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimnis. Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert – sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht – immer gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss. Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche ist ein Wehetun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit. Also aber rate ich euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist! Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt der Henker und der Spürhund. Misstraut Allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig. Und wenn sie sich selber »die Guten und Gerechten« nennen, so vergeßt nicht, dass ihnen zum Pharisäer nichts fehlt als – Macht! Meine Freunde, ich will nicht vermischt und verwechselt werden. Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln. Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen, und abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit wehetun. Solchen wollen sie damit wehetun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hause. Wäre es anders, so würden die Taranteln anders lehren: und gerade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner. Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich«. Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden! Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und Alle Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss! In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten –  d a r u m braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden. Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts – seht mir doch mit erleuchteten Augen hin! Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimnis Alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei, und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis. Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die göttlich-Strebenden – Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir w i d e r  einander streben! – Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin! Göttlich sicher und schön biss sie mich in den Finger! »Strafe muss sein und Gerechtigkeit« – so denkt sie: »nicht umsonst soll er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!« Ja, sie hat sich gerächt! Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen! Dass ich mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest hier an diese Säule! Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht! Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Tänzer!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 124-127

„Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entraten. Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran. Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr, und um den Tod ein Würfelspielen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 143-144

„Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis ins Herz dem Mächtigeren – und stiehlt da Macht. Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir: »Siehe«, sprach es, »ich bin das,  w a s   s i c h   i m m e r   s e l b e r  ü b e r w i n d e n  m u s s .  Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen k r u m m e n  Wegen er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144

„Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144-145

„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das gibt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„»Und das heisse mir aller Dinge u n b e f l e c k t e  Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wo ist Unschuld?  Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist die Schönheit ?  Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und diess heisst  m i r Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 155

„Denn die Menschen sind  n i c h t gleich: so spricht die Gerechtigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 158

„»Seit ich den Leib besser kenne«, – sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger – »ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das ›Unvergängliche‹ – das ist auch nur ein Gleichnis.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 159

„Die Erde ... hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: »Mensch«.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 164

„Lasst euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch – die Tugend!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165

„Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich mürrisch und fragte: »Kirche? Was ist denn das?« »Kirche?« antwortete ich, »das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du kennst deine Art wohl am besten schon! Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle – dass er glauben mache, gleich dir, er rede aus dem Bauch der Dinge. Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt's ihm auch.« – Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund wie unsinnig vor Neid. »Wie?« schrie er, »das wichtigste Thier auf Erden? Und man glaubt's ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche Stimmen kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Ärger und Neid ersticken.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165-166

„Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heissen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 181-182

„Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an ihrem Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst du befehlen! Weisst du nicht, wer allen am nöthigsten tut? Der Grosses befiehlt. Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 185

„Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig – fliesst!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 190

„Mitleiden ... ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 195

„»Alles Gerade lügt«, murmelte verächtlich der Zwerg. »Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Muss nicht, was laufen  k a n n von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehn k a n n  von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon – dagewesen sein?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.« …. Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: »bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!« Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 205

„Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind  k l e i n e r geworden und werden immer kleiner –  d a s  a b e r  m a c h t  i h r e  L e h r e  v o n  G l ü c k  u n d  T u g e n d . “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209

„Fuss und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten. Einige von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Einige von ihnen sind ächt, aber die Meisten sind schlechte Schauspieler. Es gibt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen –, die Ächten sind immer selten, sonderlich die ächten Schauspieler.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-

„Des Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe  d a s   W e i b   –   e r l ö s e n . “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-210

„Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass auch Die, welche befehlen, die Tugenden Derer heucheln, welche dienen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden, soviel Schwäche.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausttiere.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Ach, dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin, was ihr wollt – aber seid erst solche, die  w o l l e n   k ö n n e n ! «  »Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, – aber seid mir erst Solche, die  s i c h   s e l b e r l i e b e n  – mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!« Also spricht Zarathustra, der Gottlose. – Doch was rede ich, wo niemand  m e i n e Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich. Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen. Aber i h r e  Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer – armes Kraut! armes Erdreich! Und  b a l d sollen sie mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde – und mehr, als nach Wasser, nach  F e u e r lechzend! Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimnis vor Mittag! – Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: – verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe,  d e r   g r o s s e   M i t t a g ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 212-213

„Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Überfluß, die Viel-zu-Vielen – diese alle sind feige! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 223

„Wer Alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste Alles angreifen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 229

„Sonderlich Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die giftigsten Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie v e r m ö c h t e n  sie gegen mich – gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichtum – das lernte ich da unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, – daß ich Jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes  g e n u g und was ihm schon Geistes  z u v i e l war!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 230

„Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich auf die Wage tun. W o l l u s t ,  H e r r s c h s u c h t ,  S e l b s t s u c h t :  diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet – diese drei will ich menschlich gut abwägen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 232

„Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 240

„Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen, bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen –« – Dies hiess ich ihnen Erlösung, Dies allein lehrte ich sie Erlösung heissen. – Nun warte ich m e i n e r  Erlösung –, dass ich zum letzten Male zu ihnen gehe. Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen:  u n t e r ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da ins Meer aus unerschöpflichem Reichthume, – also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde der Thränen nicht satt im Zuschauen – Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochene Tafeln um sich und auch neue Tafeln – halbbeschriebene. “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245

„Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? – Also heischt es meine große Liebe zu den Fernsten: s c h o n e  d e i n e n  N ä c h s t e n  n i c h t !  Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Es gibt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe  d u zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: »der Mensch kann auch  ü b e r s p r u n g e n werden.« Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du thust, das kann dir keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine Vergeltung. Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher k a n n  sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245-246

„Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts  u m s o n s t haben, am wenigsten das Leben. Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen das Leben sich gab – wir sinnen immer darüber,  w a s  wir am besten d a g e g e n  geben! Und wahrlich, dies ist eine vornehme Rede, welche spricht: »Was  u n s das Leben verspricht, das wollen w i r  – dem Leben halten!« Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt. Und – man soll nicht geniessen  w o l l e n ! Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie  h a b e n –, aber man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen s u c h e n ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 246

„Gute Menschen reden nie die Wahrheit ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„ N e b e n  dem bösen Gewissen wuchs bisher alles W i s s e n !  Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 249

„Denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines  n e u e n   A d e l s , der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt »edel«. Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen, d a s s  e s  A d e l  g e b e !  Oder, wie ich einst im Gleichnis sprach: »Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 250

„Wo der schlimmste aller Bäume wuchs, das Kreuz, – an dem Lande ist Nichts zu loben!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern h i n a u s !  Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer K i n d e r  L a n d  sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr g u t  m a c h e n ,  dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln der Nimmer-Frohen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 252

„Der Beste ist noch Etwas, das überwunden werden muss!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten Tafeln der Frommen! Zersprecht mir die Sprüche der Welt-Verleumder!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Und so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich auf ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit: »wozu gingen wir jemals Wege! Es ist alles gleich!« D e n e n  klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es verlohnt sich nichts! Ihr sollt nicht wollen!« Dies aber ist eine Predigt zur Knechtschaft.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und n u r  zum Schaffen sollt ihr lernen! Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir  l e r n e n , das Gut-Lernen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge: ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen. – Wohin ihr aber auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht zu, daß nicht ein S c h m a r o t z e r  mit euch steige! Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes, das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln. Und  d a s ist seine Kunst, dass ersteigende Seelen errät, wo sie müde sind: in euren Gram und Unmut, in eure zarte Scham baut er sein ekles Nest. Wo der Starke schwach, der Edle allzumild ist – dahinein baut er sein ekles Nest: der Schmarotzer wohnt, wo der Große kleine wunde Winkel hat. Was ist die höchste Art alles Seienden und was die geringste? Der Schmarotzer ist die geringste Art; wer aber höchster Art ist, der ernährt die meisten Schmarotzer. Die Seele nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann: wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer sitzen? – die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus Lust in den Zufall stürzt: – die seiende Seele, welche ins Werden taucht; die habende, welche ins Wollen und Verlangen w i l l :  – die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: – die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Widerströmen und Ebbe und Flut haben: – o hwie sollte  d i e   h ö c h s t e  S e e l e  nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 256-257

„Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich  w i l l es noch stoßen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 257-258

„Ihr sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten: ihr müsst stolz auf euren Feind sein: also lehrte ich schon Ein Mal.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 258

„Der Mensch nämlich ist das beste Raubthier. Allen Thieren hat der Mensch schon ihre Tugenden abgeraubt: das macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten gehabt. Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen lernte, wehe!  w o h i n a u f – würde seine Raublust fliegen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 259

„So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern  h i n a u f – dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Im Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen aus.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's – ein langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! – ein Versuch, oh meine Brüder! Und k e i n  »Vertrag«! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Oh meine Brüder! Bei welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Und was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden! Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. Oh meine Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach: »es sind die Pharisäer«. Aber man verstand ihn nicht. Die Guten und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber ist die Wahrheit: die Guten  m ü s s e n Pharisäer sein – sie haben keine Wahl! Die Guten m ü s s e n  den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das i s t  die Wahrheit! Der zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen sie am meisten?« Den S c h a f f e n d e n  hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werte, den Brecher – den heissden sie Verbrecher. Die Guten nämlich – die  k ö n n e n nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: – sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft – sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 262

„Und was ich einst sagte vom »letzten Menschen«? – Bei welchen liegt die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten?  Z e r b r e c h t ,   z e r b r e c h t   m i r   d i e   G u t e n  u n d  G e r e c h t e n ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263

„Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte? Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hiessund die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe See. Und nun erst kommt ihm der große Schrecken, das grosse Umsich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit. Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Aber wer das Land »Mensch« entdeckte, entdeckte auch das Land »Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere, geduldsame! Aufrecht geht mir beizeiten, oh meine Brüder, lernt aufrecht gehn! Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten. Das Meer stürmt: alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! Was Vaterland!  D o r t h i n will unser Steuer, wo unser  K i n d e r - L a n d ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263-264

„»Warum so hart!« – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« – Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch:  w e r d e t   h a r t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264

„Oh du mein Wille! Du Wende aller Not, du  m e i n e Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu einem großen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare dir für dein Letztes auf – daß du unerbittlich bist in deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuß taumelte nicht und verlernte im Siege – stehen! – Dass ich einst bereit und reif sei im großen Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem Milch-Euter: – bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach seinem Sterne: – ein Stern, bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: – eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende aller Not, du m e i n e  Nothwendigkeit! Spare mich auf zu einem grossen Siege! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264-265

„Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen. “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268-269

„Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wißt ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„ U n d  i h r  s c h a u t e t  d e m  A l l e n  z u ?  Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich »Sünder« und »Kreuzträger« und »Büsser« heisst, überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„Und ich selber – will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten, – dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser  u n d böser werden muß: – Nicht an d i e s  Marterholz war ich geheftet, dass ich weiß: der Mensch ist böse – sondern ich schrie, wie noch niemand geschrien hat: »Ach, dass sein Bösestes so gar klein ist! Ach, dass sein Bestes so gar klein ist!« Der grosse Überdruss am Menschen – d e r  würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: »Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Wissen würgt.« Eine lange Dämmerung hinkte vor mir her, eine todesmüde, todestrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem Munde redete. »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch« – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen. Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und morsche Vergangenheit. Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte nicht mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und nagte und klagte bei Tag und Nacht: – »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Nackt hatte ich einst beide gesehn, den größten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander – allzumenschlich auch den Größten noch! Allzuklein der Größte! – das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – das war mein Überdruß an allem Dasein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„»Sprich nicht weiter«, antworteten ihm abermals seine Thiere; »lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue Leier!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Denn deine Tiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden mußt: siehe,  d u   b i s t   d e r   L e h r e r  d e r  e w i g e n  W i e d e r k u n f t  –, das ist nun  d e i n Schicksal!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens gibt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von neuem umdrehn, damit es von neuem ablaufe und auslaufe: – so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten, so dass wir selber in jedem großen Jahre uns selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 272

„Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange –  n i c h t zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, – dass ich wieder das Wort spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos –, als Verkündiger gehe ich zu Grunde! Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also –  e n d e t Zarathustra's Untergang.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 273

„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!   D e n n   i c h   l i e b e   d i c h ,   o h   E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 283-287

„ D e r  nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: »Werde, der du bist!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 293

„Ich aber und mein Schicksal – wir reden nicht zum Heute, wir reden auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und Zeit und Überzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn. Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 294

„Einstmals – ich glaub’, im Jahr des Heiles Eins – // Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins: // »Weh, nun geht's schief! // Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief! // Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude, // Rom’s Caesar sank zum Vieh, Gott selbst – ward Jude!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 303

„Verlange Viel – das rät mein Stolz! // Und rede kurz – das rät mein andrer Stolz!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 312

„Ich liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muss.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 328

„So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los– seine große Trübsal: die aber heißt heute Ekel. Wer hat heute von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe doch diese Kühe an!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 330

„Die Kühe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich. »Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit, »sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst einen großen Reichtum von sich warf, – der sich seines Reichthums schämte und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.« »Aber sie nahmen mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weisst es ja. So gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen Kühen.« »Da lerntest du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer ist, recht geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine K u n s t  ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.« »Sonderlich heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute nämlich, wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art hoffärtig: nämlich auf Pöbel-Art. Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für den großen schlimmen langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand: der wächst und wächst! Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und kleine Weggeben; und die Überreichen mögen auf der Hut sein! Wer heute gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen – solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals. Lüsterne Gier, gallichter Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das sprang mir alles ins Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kühen.« »Und warum ist es nicht bei den Reichen?« fragte Zarathustra versuchend, während er den Kühen wehrte, die den Friedfertigen zutraulich anschnauften. »Was versuchst du mich?« antwortete dieser. »Du weisst es selber besser noch als ich. Was trieb mich doch zu den Ärmsten, oh Zarathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten? – vor den Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vortheil aus jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt, – vor diesem vergüldeten, verfälschten Pöbel, dessen Väter Langfinger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern willfährig, lüstern, vergesslich – sie haben’s nämlich alle nicht weit zur Hure – Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch ›arm‹ und ›reich‹! Diesen Unterschied verlernte ich – da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 331-332

„Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 334

„Am späten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen  N o t h s c h r e i . Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. Da sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da sassen sie allesamt beieinander, an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel; der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel umgeschlungen – denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu verkleiden und schön zu tun. Inmitten aber dieser betrübten Gesellschaft stand der Adler Zarathustra’s, gesträubt und unruhig, denn er sollte auf zu vieles antworten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge Schlange aber hing um seinen Hals. Dies alles schaute Zarathustra mit grosser Verwunderung; dann aber prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger Neugierde, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra reden werde. Zarathustra aber sprach also: »Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hörte also  e u r e n Nothschrei? Und nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte:  d e r   h ö h e r e   M e n s c h – :  – in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt, durch Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 342-343

„»Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit euch reden. Nicht auf e u c h  wartete ich hier in diesen Bergen.« (»....«) »Ihr mögt wahrlich insgesamt höhere Menschen sein«, fuhr Zarathustra fort, »aber für mich – seid ihr nicht hoch und stark genug. Für mich, das heisst: für das Unerbittliche, das in mir schweigt, aber nicht immer schweigen wird. Und gehört ihr zu mir, so doch nicht als mein rechter Arm. Wer nämlich selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt: dass er  g e s c h o n t werde. Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht, i c h  s c h o n e  m e i n e  K r i e g e r  n i c h t :  wieso könntet ihr zu  m e i n e m Kriege taugen? Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und mancher von euch fiele schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hörte. Auch seid ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brauche reine glatte Spiegel für meine Lehren; auf eurer Oberfläche verzerrt sich noch mein eignes Bildnis. Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Pöbel auch in euch. Und seid ihr auch hoch und höherer Art: vieles an euch ist krumm und missgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge. Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüberschreiten! Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in  s e i n e Höhe steigt! Aus eurem Samen mag auch mir einst ein echter Sohn und vollkommener Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen mein Erbgut und Name zugehört. Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht mit euch darf ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, – – n i c h t  die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen Überdrusses und das, was ihr den Überrest Gottes nanntet. – Nein! Nein! Drei Mal Nein! Auf A n d e r e  warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele:  l a c h e n d e   L ö w e n müssen kommen! Oh, meine Gastfreunde, ihr Wunderlichen – hörtet ihr noch nichts von meinen Kindern? Und dass sie zu mir unterwegs sind? Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen glückseligen Inseln, von meiner neuen schönen Art – warum sprecht ihr mir nicht davon? Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was gab ich nicht hin, – was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte: d i e s e  Kinder, d i e s e  lebendige Pflanzung,  d i e s e Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 346-347

„Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die große Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam. Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen »Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!« Ihr höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt »wir sind alle gleich«. »Ihr höheren Menschen« – so blinzelt der Pöbel – »es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!« Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 352

„Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure grösste Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr! Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt: wird euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft euch hier der Höllenhund? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353

„Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?« Zarathustra aber fragt als der einzige und erste: »wie wird der Mensch  ü b e r w u n d e n ? « Der Übermensch liegt mir am Herzen,  d e r ist mein Erstes und Einziges – und n i c h t  der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste. – Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist Vieles, das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das macht mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen Verehrenden. Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden. Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch: D a s  will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals – oh Ekel! Ekel! Ekel! Das frägt und frägt und wird nicht müde: »wie erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?« Damit – sind sie die Herren von heute. Diese Herren von heute überwindet mir, oh meine Brüder – diese kleinen Leute: d i e  sind des Übermenschen grösste Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der Meisten« –! Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr höheren Menschen! So nämlich lebt  i h r – am Besten!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353-354

„Habt ihr Muth, oh meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit S t o l z .  Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, – wer mit Adlers-Krallen den Abgrund  f a s s t : Der hat Muth.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 354

„»Der Mensch ist böse« – so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. »Der Mensch muss besser und böser werden« – so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem. Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines großen T r o s t e s .  – Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-Klauen greifen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht machtet? Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fussteige zeigen? Nein! Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu Grunde gehn – denn ihr sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein – – so allein wächst der Mensch in d i e  Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz! Auf Weniges, auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles, kurzes Elend an! Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht  a m   M e n s c h e n . Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran i c h  litt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Es ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht ableiten will ich ihn: er soll lernen für  m i c h – arbeiten. – Meine Weisheit sammelt sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So tut jede Weisheit, welche e i n s t  Blitze gebären soll. – Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen. D i e  – will ich blenden. Blitz meiner Weisheit! stich ihnen die Augen aus!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Wollt Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falschheit bei Solchen, die über ihr Vermögen wollen. Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen! Denn sie wecken Misstrauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer und Schauspieler:– – bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig, übertünchter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-Tugenden, durch glänzende falsche Werke. Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren Menschen! Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit. Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross, was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gründe geheim! Diess Heute nämlich ist des Pöbels. Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das – umwerfen? Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel misstrauisch. Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: »welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?« Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt jeder Vogel entfedert. Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet euch! Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntnis! Ausgekälteten Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was Wahrheit ist.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor  t r a g e n , setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe! Du aber stiegst zu Pferde? Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer Fuß sitzt auch mit zu Pferde! Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von deinem Pferde springst: auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch – wirst du stolpern!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger. Lasst euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch »für den Nächsten« – ihr schafft doch nicht für ihn! Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit »für« und »um« und »weil« thut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben. Das »für den Nächsten« ist die Tugend nur der kleinen Leute: da heisst es »gleich und gleich« und »Hand wäscht Hand« – sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz! In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe. Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist e u e r  »Nächster«: lasst euch keine falschen Werte einreden!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muss, der ist krank; wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Vergnügen macht. Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet Mütter sein. Ein neues Kind: oh, wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht beiseite! Und wer geboren hat, soll seine Seele rein waschen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Seid nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch wider die Wahrscheinlichkeit! Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend ging! Wie wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch steigt? Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling werde! Und wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht Heilige bedeuten wollen! Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und Wildschweinen: was wäre es, wenn der von sich Keuschheit wollte? Eine Narrheit wäre es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Solchen, wenn er Eines oder Zweier oder Dreier Weiber Mann ist. Und stiftete er Klöster und schriebe über die Tür: »der Weg zum Heiligen« – ich spräche doch: wozu! es ist eine neue Narrheit! Er stiftete sich selber ein Zucht- und Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber ich glaube nicht daran. In der Einsamkeit wächst, was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige?  U m   d i e herum war nicht nur der Teufel los – sondern auch das Schwein.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359

„Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missriet: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf missriet euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem grossen Spott- und Spieltische? Und wenn euch Grosses missriet, seid ihr selber darum – missraten? Und missrietet ihr selber, missriet darum – der Mensch? Missriet aber der Mensch: wohlan! wohlauf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359-360

„Je höher von Art, je seltener gerät ein Ding. Ihr höheren Menschen hier, seid ihr nicht alle – missgeraten? Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missrietet und halb gerietet, ihr Halbzerbrochenen! Drängt und stösst sich nicht in euch – des Menschen  Z u k u n f t ? Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft: schäumt das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? Was Wunders, dass mancher Topf zerbricht! Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich! Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem! Stellt kleine gute vollkommene Dinge um euch, ihr höheren Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 360

„Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach: »Wehe denen, die hier lachen!« Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe? So suchte er nur schlecht. Ein Kind findet hier noch Gründe. Der – liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er uns. Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das – dünkt mich ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte. Er kam vom Pöbel. Und er selber liebte nur nicht genug: sonst hätte er weniger gezürnt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe  w i l l  nicht Liebe – die will mehr. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie haben den bösen Blick für diese Erde. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Sie haben schwere Füsse und schwüle Herzen – sie wissen nicht zu tanzen. Wie möchte Solchen wohl die Erde leicht sein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361

„Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen machen sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke – alle guten Dinge lachen. Der Schritt verrät, ob Einer schon auf s e i n e r  Bahn schreitet: so seht mich gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt. Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf, steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361-362

„Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362

„Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf! Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich müht auf dem Kopf zu stehn. Besser aber noch närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen, als lahm gehn. So lernt mir doch meine Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten, – – auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen! So verlernt mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess Heute aber ist des Pöbels.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362-363

„Dem Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen Fusstapfen. Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser gute unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt, – – der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, welcher auf Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt! Der die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missratene düstere Gezücht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub in die Augen bläst! Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, dass ihr missrietet! Wie vieles ist noch möglich! So  l e r n t doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen,  l e r n t mir – lachen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 363-364

„Und da stehe ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„ D i e  W ü s t e  w ä c h s t :  w e h  D e m ,  d e r  W ü s t e n  b i r g t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„Eins aber weiss ich, – von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathustra: wer am gründlichsten tödten will, der l a c h t .  ›Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man‹ – so sprachst du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger, – du bist ein Schelm!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 388

„Es lohnt sich auf der Erde zu leben: ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich die Erde lieben. ›War  D a s – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch Ein Mal!‹ Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: War  D a s – das Leben? Um Zarathustras Willen, wohlan! Noch Ein Mal!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 392

„Weh spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles, was leidet, will leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig, – sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben, so spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht  m i c h « , – Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder – Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 397-398

„Mitternacht ist auch Mittag ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„ D e n n  a l l e  L u s t  w i l l  –  E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„Lust will a l l e r  Dinge Ewigkeit, w i l l  t i e f e ,  t i e f e  E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 399

„Oh Mensch! Gib Acht! // Was spricht die tiefe Mitternacht? // »Ich schlief, ich schlief –, // Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – // Die Welt ist tief, // Und tiefer als der Tag gedacht. // Tief ist ihr Weh –, // Lust – tiefer noch als Herzeleid: // Weh spricht: Vergeh! // Doch alle Lust will Ewigkeit –, // – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 400

„Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach G l ü c k e ?  Ich trachte nach meinem W e r k e !  Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine Stunde kam: – Dies ist  m e i n Morgen,  m e i n Tag hebt an: h e r a u f  n u n ,  h e r a u f ,  d u  g r o s s e r  M i t t a g ! «  – – Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 404


4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Nachgelassene Fragmente

„Grundsatz: das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.“
Friedrich Nietzsche, Frühjahr 1884, in: Nachgelassene Fragmente (25 [428], KSA, 11, 125)


4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Versuch einer Selbstkritik

„Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? – wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten« ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? – Und wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 3-4

„Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hin zum »Sabbat der Sabbate« – dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, – muß endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins, als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden.“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 10

„Und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europas gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zur Vermittelmäßigung, zur Demokratie und den »modernen Ideen« machte!“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12

„Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das große dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in betreff der Musik, fort und fortbestehn: wie müßte eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen?“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12


4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Jenseits von Gut und Böse

„Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Philosophen .... Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennenm eine Rück- und Heimkerh in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 29-30 bzw. 583-584

„Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders »in die Welt« blicken und auf andern Pfaden zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 30 bzw. 584

„Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit der Natur«, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur dank eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie« – sie ist kein Tatbestand, kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 22, in: Werke III, S. 32 bzw. 586

„Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität des Willens glauben: tun wir das – und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Kausalität selbst –, so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Kausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. »Wille« kann natürlich nur auf »Wille« wirken – und nicht auf »Stoffe« (nicht auf »Nerven« zum Beispiel –): genug, man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen« anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens- Wirkung ist. – Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren »intelligiblen Charakter« hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben »Wille zur Macht« und nichts außerdem.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 36, in: Werke III, S. 47 bzw. 601

„Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 78, in: Werke III, S. 73 bzw. 627

„Eine Seele, die sich gelebt weiß, aber selbst niocht lebt, verrät ihren Bodensatz – ihr Unterstes kommt herauf.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 79, in: Werke III, S. 73 bzw. 627


4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Zur Genealogie der Moral

„Gerade hier ... sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wehrend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig sich ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifend Mildeids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Eiropäer-Buddhismus? zum - Nihilismus? ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 213 bzw. 767

„Man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? .... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 214 bzw. 768

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228 bzw. 782

„Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«, zu einem »Anders«, zu einem »Nicht-selbst«: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks - diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber - gehört eben zum Resentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren - ihre Aktion ist von Grund auf Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen - ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228-220 bzw. 782-783

„Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios »edelbürtig« unterstreicht die Nuance »aufrichtig« und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich ... in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe .... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert - und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar als Gegenbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten« ausdenkt - sich selbst ! ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 231 bzw. 785

„Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? –, nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden? .... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden. .... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282 bzw. 836

„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282-283 bzw. 836-837

„An dieser Stelle geziemt mir nur eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 283 bzw. 837

„Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates – der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 295 bzw. 849

„Das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals meinen – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens. Daß dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort, wo die Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 307-308 bzw. 861-862

„Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet; eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen – eben mit dieser Macht hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens .... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier, Natur und Göttern ringt – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt – wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken Tieren sein? .... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes): aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich selbst – alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Tut man das? .... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiß man das?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Ins große gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein – sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis, das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der »letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft – ich rede, wie billig, von den Kulturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«, das es nachgerade auf Erden gibt.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Die Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubtiere«. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen - sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht – jenem Blick, der ein Seufzer ist! »Möchte ich irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung - der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309-310 bzw. 863-864

„Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns – wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit« wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit, alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße zieht.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310 bzw. 864

„Der Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen« Pharisäer ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310-311 bzw. 864-865

„Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!« .... Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln. Fort mit dieser »verkehrten Welt«!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 311 bzw. 865

„Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, daß man hier gerade tief greift, tief begreift –, inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Notwendigkeit mehr begriffen – die Notwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, die selber krank sind: und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 312 bzw. 866

„Der Priester ... bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde – darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger, in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt – er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 313-314 bzw. 867-868

„Es gibt, streng geurteilt, gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein »Glaube« muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann!)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336 bzw. 890

„Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft« zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II 208) – »der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? .... Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« “
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336-337 bzw. 890-891

„Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Wert der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen .... (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der »fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff.), am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur »Morgenröte«.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst;!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand - er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Problem seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es; er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf – sie selbst ist niemals werteschaffend. Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisierung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337-338 bzw. 891-892

„Diese beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden – ich gab dies schon zu verstehen –: nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen – so daß sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„(Die Kunst, vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück – die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus – dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.) “
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Auch physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung, – die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts-Gewißheit sind dahin.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft? – vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338-339 bzw. 892-893

„Nein! diese »moderne Wissenschaft« – macht euch nur dafür die Augen auf! – ist einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewußteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt ein Spiel gespielt, die »Armen des Geistes« und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, daß sie deren Gegensatz seien, etwa als die Reichen des Geistes – das sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Siege der letzteren: unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber? Das asketische Ideal wurde ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfaßlicher, geistiger, verfänglicher gemacht, daß immer wieder eine Mauer, ein Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt vergröberte, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der Tat, daß etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute? .... Ist damit vielleicht der Mensch weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von Dasein geworden, daß dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

„Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott ((»Kind Gottes«, »Gottmensch«) war .... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«? .... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – ins alte Ideal?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

„Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit« ...), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik –, ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht verlernt hat« ...).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339-340 bzw. 893-894

„Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß etwa Kants Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik ((raquo;Gott«, »Seele«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem Ideale Abbruch getan habe? – wobei es uns einstweilen nichts angehn soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiß ist, daß alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben – sie sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den »Wünschen ihres Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? .... Gesetzt, daß alles, was der Mensch »erkennt«, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im »Wünschen«, sondern im »Erkennen« suchen zu dürfen! .... »Es gibt kein Erkennen: folglich – gibt es einen Gott«: welche neue elegantia syllogismi! welcher Triumph des asketischen Ideals!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340 bzw. 894

„Oder zeigte vielleicht die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack – sie bejaht so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« .... Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340-341 bzw. 894-895

„Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen« –: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver« Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr zu verlieren hat – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer« erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm odonion gab, wozu gab mir die Natur den Fuß? .... Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 341-342 bzw. 895-896

„Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! solange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342 bzw. 896

„Europa ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls, wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung« zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft wieder reinlicher röche .... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels–Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft« zu machen – man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug dazu? – wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!.. Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342-343 bzw. 896-897

„Genug! Genug! Lassen wir diese Kuriositäten und Komplexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdrießen ist: gerade unser Problem kann deren entraten, das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals – was hat dasselbe mit gestern und heute zu tun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefaßt werden (unter dem Titel »Zur Geschichte des europäischen Nihilismus«; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343 bzw. 897

„Worauf es mir allein ankommt, hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals – denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« –: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren Folgerichtigkeiten – er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion gemacht.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343-344 bzw. 897-898

„Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner »fröhlichen Wissenschaft« (II, 227 f.): »Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit – mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344 bzw. 898

„Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?« .... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (– denn noch weiß ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? .... An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344-345 bzw. 898-899

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand – er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! “
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute de mieux« par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leben ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung - es ist kein Zweifel - brachte neues Leiden mit sich; tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld .... Aber trotz alledem - der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des »Ohne-Sinns«; er konnte nunmehr etwas wollen - gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche; dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst; die Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Aufglehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! .... Und, um es noch zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 345-346 bzw. 899-900


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