Nietzsche (Ausw. Brune) 9

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Quelle: hubert-brune.de/nietzsche_aphorismen_sp.html


Inhalt

1.1
Vorphilosophie, 1856

2.1
Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872
2.2
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872
2.3
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872
2.4
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874
2.5
Schopenhauer als Erzieher, 1874
2.6
Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876

3.1
Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880
3.2
Nachgelassene Fragmente, 1880
3.3
Morgenröte, 1881
3.4
Die fröhliche Wissenschaft, 1882

4.1
Also sprach Zarathustra, 1883-1885
4.2
Nachgelassene Fragmente, 1884
4.3
Versuch einer Selbstkritik, 1886
4.4
Jenseits von Gut und Böse, 1886
4.5
Zur Genealogie der Moral, 1887
4.6
Götzen-Dämmerung, 1889
4.7
Der Fall Wagner, 1888
4.8
Der Antichrist, 1889
4.9
Ecce homo, 1889
4.10
Dionysos-Dithyramben, 1889
4.11
Nietzsche contra Wagner, 1889
4.12 Der Wille zur Macht
[1] [2] [3], posthum ab 1901
4.13
Aus dem Nachlaß



4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Der Wille zur Macht (3/3)

„Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener Psychologie – der Willens-Psychologie – hat man in den Ständen zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen – sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt. Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutze zu reinigen, – in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, – daß niemand schuld an ihm ist .... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist. – Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt .... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend« zu erreichen – wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? – Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen .... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 509-511

„Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum« bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten!
Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur »Freiheit der Bewegung«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 512-513

„Scheinbar entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit – diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis; die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum. Alle Moralen wissen nichts von »Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten Kulturen – also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen –, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen, welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch. Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nötig ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 521-522

„Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens zur Macht«; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen: – das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen (– abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen). Die altruistische Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren: vor allem – er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten.
Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen – er hebt andere von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder– und Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend: zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.
Rekapitulation:
1. Die Individuen machen sich frei;
2. sie treten in Kampf, sie kommen über »Gleichheit der Rechte« überein (– »Gerechtigkeit« als Ziel –);
3. ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede herrscht und viele kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.
Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«, d.h. gleiche Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 522-524

„Berichtigung des Begriffs »Egoismus«. – Hat man begriffen, inwiefern »Individuum« ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß »vererbt«, sondern er selbst –), so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt, – wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen. Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen Lebensgefühls, Wertgefühls.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 524

„Geschichte der Vermoralisierung und Entmoralisierung
Erster Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B. Kant zugab und das Christentum insgleichen), – sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch« und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen.
Zweiter Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch« geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität seien – kurz, daß es eine solche gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt, an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht – es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.
Der psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch« und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«, »selbstverleugnend« – alles unreal, fingiert. Fehlerhafter Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich« zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren. – Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung liegen. Also:
1. die falsche Verselbständigung des »Individuums«, als Atom;
2. die Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich empfindet;
3. als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels;
4. nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;
5. man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;
6. Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten, mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, – man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnen – ungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts, z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: »Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu tun, welche »gut« sind.
NB. Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache (– alle unmoralisch).
Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist – die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, »vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen« mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisiert. Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«, verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal. Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«), – man tauft sie um auf heilige Namen; die verleumdeten Instinkte suchen sich als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck; man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens); man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen der Menschheit«); man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur; man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist; endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind – und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht – und daß man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.
Folgerungen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; – die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: – es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. – Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw..
Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch daß man sie transloziert – ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 524-529

„Ist man über das »Warum?« seines Lebens mit sich im reinen, so gibt man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin. Es ist selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und Entsagung, Resignation, Tugend, »Objektivität« können zum mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache zu mangeln beginnt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 531

„Deutschland, welches reich ist an geschickten und wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in einem solchen Maße seit langer Zeit der großen Seelen, der mächtigen Geister, daß es verlernt zu haben scheint, was eine große Seele, was ein mächtiger Geist ist: und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen und aller Verlegenheit bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene Menschen an den Markt und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren an; wie z. B. Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter, der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche Seele herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer Geist ihn treibt – sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel die Ehren vergibt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 531-532

„Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 533

„Apollinisch – dionysisch. – Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer: im Traum und im Rausch. Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 534

„Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben .... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit-und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 534

„Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen – bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch geredet. Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl... Die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente« Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto; die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen genügt, als Suggestion, für den andern: – dergestalt sind schließlich Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (– zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (– ebenfalls normal koordiniert ...). Frühling, Tanz, Musik: – alles Wettbewerb der Geschlechter, – und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit im Busen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 535-536

„Biologischer Wert des Schönen und des Häßlichen. – Was uns instinktiv widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole). Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-Mensch. Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt.

Alle Instinkt-Urteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger. Die Schönheits– und Häßlichkeits-Urteile sind kurzsichtig (– sie haben immer den Verstand gegen sich –): aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt. Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch eine ganze Fülle anderer und anders – woher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen (– letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines »schönen Weibes« .... Also
1. das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen;
2. es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile bedingt ist – der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden – (weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirat ist).
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 538-539

„Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden-und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln. Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 544-545

„Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 545

„Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt. Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch- Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«. Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler .... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 546-547

„Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute »gesund« genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche:
Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich .... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat .... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden. Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«. Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt) .... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet – der Christ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 547-548

„Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch – er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung –, es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben – das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.) Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und das »Dramatische« in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 548-549

„Verglichen mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung des Lebens (– aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft). Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein mögen .... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr Ernst im »Spiele« – ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt, kommandierend. – Aufgangs-Künstler – Niedergangs-Künstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören? .... Ja!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 550-551

„Würde irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu – sie beweist die Regel – das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit, die es gibt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt – es will gefallen .... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (– daß es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht –). Die Kunst, so wie der Künstler sie übt – begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Literatur gewagt (– vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 551

„Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler »Form« nennen, als Inhalt, als »die Sache selbst« empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem – unser Leben eingerechnet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 552

„In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge »dieser Welt« – sie liebten ihre Sinne. »Entsinnlichung« zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-Gewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer, gleich Goethe, mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an »den Dingen der Welt« hängt – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 552-553

„Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? – Ja. – Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation« .... Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht .... Es gibt keine pessimistische Kunst .... Die Kunst bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 553-554

„Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch »der Gute« im großen Gesamt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte damit recht. An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen »das Gute und das Schöne sind eins«; fügt er gar noch hinzu »auch das Wahre«, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 554

„In Hinsicht auf die Maler: ... Sie sind tausend Meilem weit von den alten Meistern, welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 557

„Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 567

„Was ist Romantik? – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle: »Ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher –, nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach »Sein« die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort »dionysisch«); es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und aufreizt. »Verewigen« andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend; – es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer-Leidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 568-569

„Ob nicht hinter dem Gegensatz von klassisch und romantisch der Gegensatz des Aktiven und Reaktiven verborgen liegt?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 569

„Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche gehen; zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (nicht nachdem dies schon geschehen ist...): einen Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig ist ...); kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärtsführender Geist sein, ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß. »Es gehört dazu nicht der höchste persönliche Wert?« .... Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier nicht ihr Spiel spielen und ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Klassische ist? .... Ob nicht die moralischen Monstra notwendig Romantiker sein müssen, in Wort und Tat? .... Ein solches Übergewicht einer Tugend über die anderen (wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe und wäre trotzdem Klassiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 569-570

Die Romantiker in Deutschland protestieren nicht gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 571

„Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin, in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verfehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt .... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen zum Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 571-572

„Die Kunst in der »Geburt der Tragödie«
I
Die Konzeption des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn. .... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.
Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. »Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence – er hat es noch mit allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein!
Daß der Charakter des Daseins verkannt werde – tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist. Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« – lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! .... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff« – Herr über die Wahrheit! .... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ....
II
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.
Die Kunst als die Erlösung des Handelnden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.
Die Kunst als die Erlösung des Leidenden – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.
III
Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein – letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d.h. zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.
IV
Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher« ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! – daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.
In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit ....«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 575-578

„Ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter ..., wo jeder über jeden und jedes zu Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Rang bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten: und nichts sonst.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Galten sich unterjochend.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

„Vorteil eines Abseits von seiner Zeit. – Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die kollektivistische Moral – denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen oder dem anderen oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, resp. inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

„Vom Range. Die scheckliche Konsequenz“ der »Gleichheit« – schließlich glaubt jeder das Recht zu haben zu jedem Problem. Es ist alle Rangordnung verlorengegangenen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

„Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Massen ist nötig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Hernn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das »Volk« zur Geltung bringt oder das »Weibliche«, wirkt zugunsten ... der Herrschaft der neideren Menschen. Aber wir wollen Repressalien übern und diese ganze Wirtschaft (die in Europa mit dem Chrisrtentum anhebt) ans Licht und vors Gericht brngen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582-583

„Es bedarf einer Lehre, starkt genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken. lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen. – Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. – Die Vernichtung der Tartüfferie, welche »Moral« heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin: Augustin, Bunyan). – Die Vernichtung ... des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, einzelne – Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) – Der neue Mut – keine apriorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!), sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat, z.B. Zeit als Eigenschaft des Raumes usw.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 583

„Der Begriff »starker und schwacher Mensch« reduziert sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«. Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das sie zu schwach ist – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran. Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse tut's«. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen – eine chronologische Differenz. Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 583-584

„Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind »menschlicher« –: die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –.)
Die Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch ..., in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen »Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank – die großen Gemütsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.
Endlich: das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein –: oder besser, es macht die Starken schwach – es herrscht, wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«, die »Starken«, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe – die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.
Endlich: die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art, zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur – d.h. der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt.
Endlich: der soziale Mischmasch, Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen (darauf steuern derzeit dle Abendländer zu, wie man deutlich sehen kann! Anm. HB) – alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben –, die »Genies« voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner). – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werte.
Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, »mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über alles, was glänzt ....) .... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft .... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie – sie wird unterhaltend, sie verführt.
Resultat. – Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch – sie ist deplaziert unter Ausnahmen –, sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme – die Juden sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa (als ob nur Juden Großfinanziers wären! Nein, unter ihnen gab und gibt es mehr Revolutionäre und Sozialisten, als es den Anschein hatte und hat! Anm. HB) . Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ – und »mittelmäßig« .... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«
Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen –: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –
Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich untereinander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt .... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.
Es sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht .... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 584-589

„Eine Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! – Nicht uniformieren! Uns klarmachen, wie teuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark-gestimmt zu werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 589

„Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen »Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort »Übermensch«.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 589-591

„Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist in diesem Wachstum. Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 591

„Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit (– die Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind, und den längsten Willen garantieren können.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 591-592

„Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 592

„Die Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demut, Keuschheit, Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams gesiegt hat – die herrschenden Naturen wurden dadurch
1. zur Heuchelei,
2. zur Gewissensqual verurteilt – die schaffenden Naturen fühlten sich als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werte.
Die Barbaren zeigten, daß Maßhalten-können bei ihnen nicht zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und Triebe der Natur – ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände. Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden (– so hat Larochefoucauld den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei solchen, welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maßhalten selber war als Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem Teufel usw.. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maße, der Genuß am Schönen des Maßes war übersehen oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte. Der Glaube an die Lust im Maßhalten fehlte bisher – diese Lust des Reiters auf feurigem Rosse! – Die Mäßigkeit schwacher Naturen mit der Mäßigung der starken verwechselt! In summa: die besten Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen – und die besten Menschen sind verborgen geblieben – und haben sich oft selber verkannt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 592-593

„Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle »Größe des Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 594

„Die Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältnis zu den Pflichten, die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt. Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 594-595

„Mißverständnis des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans Herz legen wollen – der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. – Im gewöhnlichen »Egoismus« will gerade das »Nicht-ego«, das tiefe Durchschnittswesen, der Gattungsmensch seine Erhaltung – das empört, falls es von den Seltneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen: »Wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung als an der jenes Viehs!«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 595

„Die Entartung der Herrscher und der herrschenden Stände hat den größten Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die römische Gesellschaft wäre das Christentum nicht zur Herrschaft gekommen. Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen gibt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden gibt und daß vor Gott die Menschen gleich stehn: was das non plus ultra des Blödsinns bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen sich selber schließlich nach dem Tugend-Maßstab der Sklaven – fanden sich »stolz« usw., fanden alle ihre höheren Eigenschaften als verwerflich. Als Nero und Caracalla oben saßen, entstand die Paradoxie »der niedrigste Mensch ist mehr wert als der da oben!« Und ein Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde der Mächtigsten – der Gott am Kreuze!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 595-596

„Der höhere Mensch und der Herden-Mensch. – Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– »und am Weibe auch nicht« mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente, und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.Das »Tyrannisierende« ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 596

„Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff »höhere Natur« klar zu machen, dafür gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft – daß »große Männer«, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind – wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Wertvolle an einem solchen »höheren Menschen« liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz in ihrer Wirkung .... Aber die »höhere Natur« des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit, in der Rangdistanz – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 596-597

„Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.Der Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid zugrunde ginge?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 597

„Den Wert eines Menschen danach abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die »moralische Wertschätzung«, soweit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmitteilbar, unmitteilsam – ein unausgerechneter Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies: wie wollt ihr den abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt? Die moralische Abwertung hat die größte Urteils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 597-598

„Die moralische Präokkupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels –). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Herde – und sei es auch als deren oberster Notbedarf, als »Hirt«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598

„Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598

„Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen will – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist das, was von uns anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit. Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben z. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598-599

„Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen an – aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Die »Reinigung des Geschmacks« kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Soviel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! – Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600-601

„Die Rangordnung der Menschen-Werte. –
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall – alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine »Person«.
b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen« sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person« zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.
c) Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit kontagiös ist, hat.
Erste Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)
Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären.
Aus der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig, – und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«, es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend« als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen .... Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurteilung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 601-602

„Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!). Der Stände- und Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.) Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht« in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 602-603

„Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. – Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden lernen: dazu tut not, daß ihm die anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden). Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen – und nicht nur zu ertragen –, die Langeweile von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven« Tätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht voneinander getrennt abschätzen lernen – das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit abgibt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgendeiner unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer tet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend (–Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs »du sollst«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 603-604

„Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale – d.h. Auswahl bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Tätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust als wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn, Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«. Daß man die unangenehmen Dinge gern tut – Absicht der Ideale.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 604-605

„Die Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand – – –)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 605

„Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat. Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 605

„Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – ins Unmoralische.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht – statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Die Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
– ein neues Niveau begründen;
– eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung;
– die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;
– die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan werden muß;
– die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;
– die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität;
– der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten Gesellschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607

„Die Starken der Zukunft. – Was teils die Not, teils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist. Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der Reichtum an Kraft wäre großer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen. Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können). Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten. Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen. Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf, – stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607-609

„Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen nun
neue
Barbaren:{die Zyniker,
die Verucher,
die Eroberer}Vereinigung der geistigen Überlegenheit
mit Wohlbefinden und
Überschuß von Kräften.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 609

„Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 609

„Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht –), sondern die niedere als Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt – auf der sie erst stehen kann. Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer à la Spencer stehn. Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz – Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst –, das würde, wenn es den mittleren Naturen freistünde, diese notwendig zugrunde richten – und tut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung« am Platze – kurz die »Herdentugenden«: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„Zu den herrschaftlichen Typen. – Der »Hirt« im Gegensatz zum »Herrn« (– ersterer Mtitel zur Erhaltung der Herde; letzterer Zweck, weshalb die Herde da ist).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„Zeitweiliges Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. – Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„Einsicht, welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel – la largeur de cœur – das Experiment – die Independenz.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas tut, das ihm nicht schmeckt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben! – Skepsis. – Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Waage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Bevor wir ans Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit getan sein. In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen der gegebenen Lage wohl unsere beste, ratsamste Tätigkeit. Das wirkliche Schaffen solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal durchsetzen und verwirklichen! Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht alles Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!Daß die Natur des Menschen böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 612

„Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.
1. Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?
2. Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück und Unglück?
3. Ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?
4. Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?
5. Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?
6. Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z. B. der Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis, eine Dummheit riecht)?
7. Ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder verachteter?
8. Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden will?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 612

„Typus meiner Jünger. – Solchen Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht – daß er standhält.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613

„Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit« bei »schönen Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen Pietisten beweisen nichts in bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen Menschen« unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da – gegen das spinozistische oder epikureische Glück und gegen alles Ausruhen in kontemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß man auch Herr über die Tugend werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613

„Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d.h. in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613-614

„Das Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über allem Verstehn ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 614

„Neue Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über das, was man lassen und tun will, ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben, ob reif dazu.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 614

„Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen: an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art, auch im Geistigsten; eine Kasuistik der Tat in bezug auf unsre Meinung, die wir von unsern Kräften haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. (Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem Magen.) – Man sollte Prüfungen erfinden auch für die Stärke im Wort-halten-können.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 615

„Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat:
1. die Askese: man hat kaum noch den Mut dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt, der der »brauchbare Staatsdiener« als regulierendes Schema vorschwebt, glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas anderes zuerst not tut – Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen darf: der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für dieses oberste Wertproblem seiner Natur zu haben;
2. das Fasten: in jedem Sinne – auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweise nicht lesen, keine Musik mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage für seine Tugend haben);
3. das »Kloster«: die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den »Versuchungen« aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten aus dem Zirkeltanz des Milieus; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen, welche uns verurteilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität (man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv, d.h. sie müssen erst lesen, um zu denken);
4. die Feste: Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen und christlichen Werten als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermut, Ausgelassenheit; der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit – lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich ja sagen darf. Das Fest ist Heidentum par excellence;
5. der Mut vor der eigenen Natur: die Kostümierung ins »Moralische«. – Daß man keine Moral-Formel nötig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen: Maßstab, wie weit einer zur Natur bei sich ja sagen kann – wie viel oder wie wenig er zur Moral rekurrieren muß;
6. der Tod.– Man muß die dumme physiologische Tatsache in eine moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten Zeit seinen Willen zum Tode hat!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 616-616

„Sich stärker fühlen – oder anders ausgedrückt: die Freude – setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte, inwiefern man vergleicht –).
Die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende Irrtümer (»Wahnvorstellungen«):
z.B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen: er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein;
z.B. das Gefühl der Überlegenheit: wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;
z.B. das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.
– Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen – von dem, was die andern »das Ideal« nennen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 616-617

„Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei« der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 620-621

„Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« –: das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man nicht nötig hat, sich zu wehren – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen – so rät es z.B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt. Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig haben, um es auszuhalten – um selbst obzusiegen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 621

„Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – »Was du nicht willst, daß dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral – als »güldener Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Kalkül: »tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe« in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere uns nicht zuvorkommen – damit wir andere außerstand setzen, sie uns anzutun«? – Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen .... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt. Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät: es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen, man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 621-622

„Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«; »was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der »meines-gleichen«, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 622-623

„Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwertung und ihres »nützlich« und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der Folgen zu übersehen vermag. Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische Denkweise nötig: weil er viel größere Komplexe von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 623

„»Seinem Gefühle folgen?« – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß. Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse hin zu tun – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei .... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt. Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel. Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt – im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 623-624

„»Sein Leben lassen für eine Sache« – großer Effekt. Aber man läßt für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: z.B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens? Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in der Gefahr .... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 624

„Wie viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig« ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt! Man will nicht sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 625

„Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 625

„Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung und Ausrottung! – Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der »große Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß. Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf. Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zugunsten des Mittleren. Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Kultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein – jede aristokratische Kultur tendiert dahin.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 626

„Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurteile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? – wie weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüte führen? – wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird? (– was uns nicht umbringt, macht uns stärker ...) – endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen? .... Stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 626-627

„Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen – welche sich nicht damit erheben will, daß sie gütig ist; – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 627

„Aristokratismus. Die Herdentier-Ideale – jetzt gipfelnd als höchste Wertansetzung der »Sozietät«: Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Wert zu geben. – Gegen sie verteidige ich den Aristokratismus. Eine Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und Delikatesse in bezug auf Freiheit bewahrt, muß sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und herabblickt. Je mehr ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten. Die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern entspringt: des Willens zur Herrschaft .... Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.
Zur wirklichen Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. – Was nimmt ab? Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie; die Wehr– und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens; die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie, die Heiterkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 627-628

„Wie sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge ihrer verfeinerten Über-Kultur interessiert sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 628-629

„Es gibt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen und überreichen Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben versteht – Herz und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit: wer sie hat, hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 629

„Die Lehre mhden agan wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft – nicht an die Mittelmäßigen. Die egkrateia und aschsis ist nur eine Stufe der Höhe: höher steht die »goldene Natur«. »Du sollst« – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie Kants (es ist gleichgültig, ob einem Oberen, oder einem Begriff). Höher als »du sollst« steht: »Ich will« (die Heroen); höher als »ich will« steht: »Ich bin« (die Götter der Griechen). Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Maß aus – sind weder einfach noch leicht noch maßvoll.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 629

„Was ist vornehm?
– Die Sorgfalt im Äußerlichsten, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
– Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
– Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern schwer.
– Das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
– Das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber – Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige – comprendre c'est égaler.
– Unser Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben.
– Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
– Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen.
– Immer sich als den fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet, der ihn ehren dürfte.
– Immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
– Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß« im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
– Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können, als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht mit ihnen.
– Die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
– Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist.
– Das Wohlgefallen an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
– Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
– Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
– Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«, an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
– Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
– Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
– Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen; wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
– Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 630-633

„Was ist vornehm? – Daß man sich beständig zu repräsentieren hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig widerspricht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 633

„Die Tugend (z.B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 633

„Der »Ehr-Begriff«: beruhend auf dem Glauben an »gute Gesellschaft«, an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten so weit sie nicht zu »uns« gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

„Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

„»Geradezu stoßen die Adler.« – Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift – »geradezu«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

„Krieg gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«! – ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit« ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch – nichts von Schönseelen-Salbaderei –. Ich will einem robusteren Ideale Luft machen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„»Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« – auch ein Symbolon und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten und erraten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 635

„Die zwei Wege. – Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren. – Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie (– sowohl die Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit: sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen, durch den Affekt einer ungeheuren Furcht ...). Die verschiedenen Arten Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich zügeln. Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte der Menschheit:
1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung;
2. das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.
Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).
Die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 635-636

„Eine Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus »Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente – dadurch, daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei (– das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 636-637

„Der Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637

„Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung des Führer-Tiers.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637

„Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll »der Mensch« als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden? Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler-Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs »die Moral« nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte – jene vorhin bezeichnete Herdentier-Moral, die mit allen Kräften das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guter Letzt, »wenn alles gut geht«, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen: »Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende« – und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings abschaffen muß. Daß solche »Ideen« immer noch modern sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucher-Kunst, Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Herden-Wünschbarkeiten zur Erhöhung des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten will, eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten – die zukünftigen Herren der Erde – muß, um gelehrt werden zu können, sich in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden sind und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten, vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbürgt wird – eine neue Herren-Art und -Kaste, – dies begreift sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns, den freien Geistern – freilich wohl zu einer neueren Art von »freien Geistern« als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer Menschen und gegen das »Herdentier« kämpfen und mit den Verführungsmitteln der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herden-Instinkte und Herden-Vorsichten einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt – es ist das Werk des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes – mutig fortgesetzt wird – (denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral, war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute – er war bisher allein »der wohlgeratene Mensch«. Die Verführung aber, welche vom Altertum her auf wohlgeratene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637-640

„Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die »Herren der Erde«. Die Religionen als Tröstungen, Abschirrungen gefährlich: der Mensch glaubt sich nun ausruhn zu dürfen. Im Theages Platos steht es geschrieben: »Jeder von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.« Diese Gesinnung muß wieder da sein. Engländer, Amerikaner und Russen – – –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640

„Die Urwald-Vegetation »Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen. Urwald-Tiere die Römer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640

„Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen »Herren der Erde«; – eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640-641

„Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 641

„Ein großer Mensch – ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat – was ist das?
Erstens: er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten, »göttlichsten« Dinge von der Welt.
Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde« gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt.
Drittens: er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 641-642

„Der große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist es jenem »aufgeklärten Despotismus« gemäß, den jede große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche. Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch. Hieraus ergibt sich, daß »Freiheit des Geistes«, d.h. Unglaube als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 642

„Der große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende – diese Vergrößerung im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden als »Altruismus« – es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn. Mißverständnis der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt: welche idealisiert und sich täuscht – es gibt eine göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt. Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war! “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 642-643

„Die Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen Menschen. – An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen ziehn aus dem Nachteile vieler – das kann bei einem sehr hohen Grade von Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen und gerechten Empfindungen Herr wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 643

„Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 643-644

„Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 644

„Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 644-645

„Im allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen Fähigkeiten des einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem, was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer Ungeheuern Aufsparung und Kapital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder, als Gabe des Himmels und »Zufalls« dasteht, wurde er groß – »Vererbung« ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 645

„Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten .... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 646

„Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph« einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
Die ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
Die zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: z. B. Plato, als er sich überredete, das »Gute«, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich will« – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten« – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 647-648

„Der menschliche Horizont. – Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne – besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung und unter »günstigen Umständen«. Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Ein Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue Art von Mensch von neuer Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens – das bringen die Künstler noch am besten zustande; wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem »interesselosen« Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran zerbrechen. – Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Weshalb der Philosoph selten gerät. Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen zugrunde richten:
1. eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich;
2. er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;
3. er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);
4. er muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter (insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);
5. äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Der eigentlich königliche Beruf des Philosophen (nach dem Ausdruck Alkuins des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Grundgedanke: die neuen Werte müssen erst geschaffen werden – das bleibt uns nicht erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese Art »Zufall« bewußt wollen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Gesetzt, man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug, um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen: so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere. Träge, Unschlüssige, Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651

„Nicht die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651

„Man muß von den Kriegen her lernen:
1. den Tod in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft – das macht uns ehrwürdig;
2. man muß lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen nicht zu schonen;
3. die starre Disziplin, und im Krieg Gewalt und List sich zugestehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651-652

„Die Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652

„Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen – können also nicht Größe haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652

„Der höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseite-gehen für das Gewissen der Menge – heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von seiten der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere Gesellschaft, vor sich selber zu »retten« sucht – ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn tätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Men schen dieser unverständlichen Vereinsamung nötig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückzieht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652-653

„Die schwierigste und höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen: so zeigt die Geschichte der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen, von Unglücksfällen und ein äußerst langsames Schreiten; ganze Jahrtausende fallen dazwischen und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang hört immer wieder auf. Das ist eine schauerliche Geschichte – die Geschichte des höchsten Menschen, des Weisen. – Am meisten geschädigt ist gerade das Gedächtnis der Großen, denn die Halb-Geratenen und Mißratenen verkennen sie und besiegen sie durch »Erfolge«. Jedesmal, wo »die Wirkung« sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das Mitreden der Kleinen und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter für den, der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit am Geraten ihres höchsten Typus liegt. – Ich habe von Kindesbeinen an über die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe Überzeugung nicht verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich wird – vielleicht nur für kurze Zeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 653-654

„Die neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung und Wert-Verschiedenheit der Menschen – sie wollen, ach, gerade das Gegenteil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen, daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen – sie werden folglich schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen oder wechselseitig betrügen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 654

„Ich vergaß zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind und daß sie gerne in dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen – sie haben andere Mittel nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie leiden anders (nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschen-Verachtung als an ihrer Menschen-Liebe). – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich – das Lachen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Über das Mißverständnis der »Heiterkeit«. Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und vorbereitet. Der »Narr« in der Form der »Wissenschaft«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Es ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen. – Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655-656

„Absolute Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 656

„Wie kommen Menschen zu einer großen Kraft und zu einer großen Aufgabe? Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und an der Seele ist mühsam und im kleinen erworben worden, durch viel Fleiß, Selbstbezwingung, Beschränkung auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung der gleichen Arbeiten, der gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind – weil auf Grund glücklicher und vernünftiger Ehen und auch glücklicher Zufälle die erworbenen und gehäuften Kräfte vieler Geschlechter nicht verschleudert und versplittert, sondern durch einen festen Ring und Willen zusammengebunden sind. Am Ende nämlich erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft ist es, welche über uns verfügt: und das erbärmliche geistige Spiel von Zielen und Absichten und Beweggründen nur ein Vordergrund – mögen schwache Augen auch hierin die Sache selber sehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 656-657

„Der sublime Mensch hat den höchsten Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist, weil eine Fülle von ganz schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter gezüchtet und beisammen erhalten worden ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Jenseits der Herrschenden, losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen: und in den Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Rangordnung: Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten; – vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehn hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen. Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere Wertschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657-658

„Nicht »Menschheit«, sondern Übermensch ist das Ziel!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 658

„Dem Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.
Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;
sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird;
er errät die Heilmittel gegen partielle Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;
er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;
er wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;
er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache – er folgt einem auswählenden Prinzip – er läßt viel durchfallen;
er reagiert mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;
er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;
er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 659

„Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit« und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 659-660

„Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie und Lehrtätigkeit – in einen Zufall und Notbehelf meines Lebens –: ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten – dafür hatte ich die Formel »dionysisch«, in den Händen. Daß ein »An-sich der Dinge« notwendig gut, selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des »An-sichs« als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralisch-christlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-sein-könnens geben kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 660-661

„Die moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661


„Werte umwerten – was wäre das? Es müssen die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden.Ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu dem, was erreicht ist – ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661

„Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht alles schon bereitliegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwertung von Werten wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661-662

„Gesichtspunkte für meine Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ob man zusieht oder Hand anlegt – oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht? ob man Problem oder Lösung ist? ob vollkommen bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder das Vertretene selbst ist –? ob »Person« oder bloß ein Rendez-vous von Personen ..., ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat – oder den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (– die Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht« noch fähig ist? (– es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen – sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 662

„Gesetzt, unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis: könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst solche Mißverständnisse sanktioniert wären? Konzeption einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«, unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 662-663

„Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere »neue Welt«: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unsrer Wertgefühle sind – also »Sinn« in die Geschichte legen können.Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Konsequenz – ihr wißt, wie sie lautet –: daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten gibt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663

„Wer die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art. In jeder Bewegung zu unterscheiden:
1. daß sie teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit);
2. daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663

„Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wieviel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663-664

„Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 664

„Zur Stärke des 19. Jahrhunderts. – Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltiert .... Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emanzipiert: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein – mit einem Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von alters her – wir sind die Ehrenretter des Teufels. Wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Komplexität mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit« von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das Wachstum des Bösen –). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen – wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es ist unmoralisch, an Gott zu glauben« – aber gerade das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten Dinge« (– wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug dazu), z.B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (– wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit –). Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 664-665

„Was uns Ehre macht. – Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig – wir geben dagegen die »schönen Gefühle« wohlfeil. Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«! Es hat alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt. Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Wertbegriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten des Daseins und verachten alles »Schönseelentum« als eine Art der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. – Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 665

„Statt des »Naturmenschen« Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen« entdeckt – es hat dazu den Mut gehabt... Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zuteil geworden. Wozu man nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den RenaissanceBegriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d.h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt). Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert – er ist ein moderner Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja. Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann« wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 665-667

„Zum Pessimismus der Stärke. – In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?
– Er konzipiert es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken – zu prävenieren.
– Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint, als sinnvoll aus.
– Ein drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«: man rechtfertigt das Böse als Strafe.
– In summa: man unterwirft sich ihm –: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. – Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten, es zu bekämpfen.
Nun stellt die ganze Geschichte der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel« – er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt – wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Kultur – ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d.h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch. Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen – er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen. Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodizee, d.h. mit einem absoluten Ja-sagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals nein gesagt hat –: und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 667-669

„Die Hauptarten des Pessimismus:
der Pessimismus der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der Unlustgefühle);
der Pessimismus des »unfreien Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);
der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).
Die dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus« (das durchbohrende Gefühl des – »Nichts«). Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred de Vignys) ? Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene? .... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja! Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein- tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens – eigentümlich allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 669-670

„Meine fünf »Neins«.
1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisierung aller bisherigen Philosophie und Wertschätzung.
2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christentums abgewirtschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen Ideals steckt in seinen Wertgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christentum (z.B. in der Musik, im Sozialismus).
3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine »Natur«, seinen »guten Menschen«, seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisierung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Kultur geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf (– die Schuldgefühls-Moralität des Christen, die Ressentiments-Moralität eine Attitüde des Pöbels).
4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen Kultur, nach virtù, nach dem »starken Menschen« – etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschtums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht (»Kultus der Leidenschaft«: ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel) – (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit Behagen: heitere Musik usw.; – unter Dichtern ist z.B. Stifter und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein als – –. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die Historie (?): relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19. Jahrhunderts.)
5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der Herden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den neuerlichen
Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 670-671

„Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist »Pessimismus« .... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt: eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren – braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs. Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständnis, Gefahr.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Eine Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht: die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. Überall, wo eine Kultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältnis zum Ausdruck, also eine Schwäche.
These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von ehedem.
Maßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen vermag, um so höher steht seine Kultur –; je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten. Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672-673

„Nicht »das Glück folgt der Tugend« – sondern der Mächtigere bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend. Die bösen Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten, niedrigen zu den Unterworfenen. Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen. Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 673

„Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen ohne das andere – oder vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das andere.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Ich habe die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht aus –: ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden. Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben – mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Die ja-sagenden Affekte: – der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende, Jatuende “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Wir wenigen oder vielen, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den »Gekreuzigten«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675-676

„Der neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisierung desselben ausgeübt – was bedeutet das? – Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen. An sich wäre nämlich das Gegenteil möglich: und es gibt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend – Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 676

„Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis. Ihr alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum mindesten nicht humanitär ist« – – und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 676

„Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes – sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit – es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt – »die Welt«!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 677

„Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart! .... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf .... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe »Gott« .... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde« .... Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht .... Man verstehe ihn recht. Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der »großen Menschen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 677-678

„Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 678

„Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.) Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus. In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel. Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nötig hat. Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 678-679

„Mein neuer Weg zum »Ja«. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat, anders ansehn – die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« – dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ..., jede Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen; zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde andrerseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen –). Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde und der meisten nicht verleugnen können – ich suchte nach den Ansätzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«, »klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 679-680

„Zu demonstrieren, inwiefern die griechische Religion die höhere war als die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurückgegangen) war.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 680

„Es ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nötig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden – es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„Es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken – und nicht nur im Gedächtnis an sie, oder im Eins-werden mit ihnen, sondern immer von neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen – solche mit den »fleischernen Herzen« – gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften, – sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Wert zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist« nennt. Die Kraft und Macht der Sinne – das ist das Wesentlichste an einem wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß zuerst gegeben sein – was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„1. Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben an sie – und sie zu Ende denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie als der größte Widersinn des Menschen.
2. Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen – nicht aber als falsch wegkritisieren!
3. Unsre Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze Religionen sagen: »Es ist alles schlecht und falsch und böse!« Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil von Mißratenen sein!
4. Freilich, die Mißratenen könnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig wert sein?
5. Man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches »Leben« heißt – den bauenden Geist, der unter den ungünstigsten Umständen baut: auf die langsamste Weise – – –. Der Beweis für alle seine Kombinationen muß erst neu gegeben werden: es erhält sich.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681-682

„Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände – das ist am heidnischen Kultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. – Die Unnatur (schon im griechischen Altertum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682

„Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682

„Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«. Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682-683

„Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens..
Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz..
An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte, der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 683-684

„Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichtum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen liebreich beieinander; der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! – Man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißratene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurteilende Etwas, gut heißt – und »Gott« heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere: diese ganze lange ungeheure Licht-und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit – mit dem Götternamen: Dionysos. –.
Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen« ein Recht zu dionysischen Feiern!.
Als der griechische Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird – man spreche nur das Wort »Dionysos« vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter! – Hat man mich verstanden? – Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen – man kennt die Griechen nicht, solange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß –; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun – denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische –; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt« –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 684-686

„Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes! Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. – Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 687-688

„Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt; die, welche ihn als größte Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

„Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

„Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

„Ich will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen – den großen züchtenden Gedanken.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690

„Die ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.
1. Darstellung der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.
2. Beweis der Lehre.
3. Mutmaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).
a) Mittel, sie zu ertragen;
b) Mittel, sie zu beseitigen.
4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.
Zeit der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück des Jesuitismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690

„Die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:
a) der des Werdens, der Entwicklung;
b) der nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!)
beide von mir in entscheidender Weise zusammengebracht.
Alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich! – Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus? Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen Gedanken.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690-691

„1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt.
2. Als der schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, d. h. falls nicht alle Werte umgewertet werden.
3. Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr »Ursache und Wirkung«, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung »es ist alles nur subjektiv«, sondern »es ist auch unser Werk! – Seien wir stolz darauf!«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 691

„Um den Gedanken der Wiederkunft zu ertragen, ist nötig: Freiheit von der Moral; – neue Mittel gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein der Unlust); – der Genuß an aller Art Ungewißheit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus; – Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs; – Beseitigung des »Willens«; – Beseitigung der »Erkenntnis an sich«. Größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 691

„Die beiden extremsten Denkweisen – die mechanistische und die platonische – kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 692

„Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« fähig, hätte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des »Seins«, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. – Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall – daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse – müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, d.h. einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren – und was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch »der alte Gott noch lebe« –, jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte »deus sive natura« (er empfand sogar »natura sive deus« –) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden Geist am bestimmtesten formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff »Kraft« unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 692-693

„Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 693

„Daß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«. Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben« sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr Wesen aber flüssig. »Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung« gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 693-694

„Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – Mein Trost ist, daß alles, was war, ewig ist – das Meer spült es wieder her.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 694

„Die neue Welt-Konzeption. – Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehn – sie erhält sich in beidem. Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.
Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff »schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.
Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit-Unendlichkeit der Welt nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun –, diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf – diesen Augenblick – als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!
Ich bin auf diesen Gedanken bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken bestimmt (– meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt .... Das ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen. Kann z.B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen, welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.
Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden darf – und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar –, so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt. – Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese gelten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 694-696

„Und wißt ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes. Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo »leer« wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber- Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 696-697


4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Aus dem Nachlaß

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß, S. 194-195


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