Nietzsche (Ausw. Brune) 7

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Quelle: hubert-brune.de/nietzsche_aphorismen_sp.html


Inhalt

1.1
Vorphilosophie, 1856

2.1
Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten, 1872
2.2
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872
2.3
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872
2.4
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874
2.5
Schopenhauer als Erzieher, 1874
2.6
Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876

3.1
Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880
3.2
Nachgelassene Fragmente, 1880
3.3
Morgenröte, 1881
3.4
Die fröhliche Wissenschaft, 1882

4.1
Also sprach Zarathustra, 1883-1885
4.2
Nachgelassene Fragmente, 1884
4.3
Versuch einer Selbstkritik, 1886
4.4
Jenseits von Gut und Böse, 1886
4.5
Zur Genealogie der Moral, 1887
4.6
Götzen-Dämmerung, 1889
4.7
Der Fall Wagner, 1888
4.8
Der Antichrist, 1889
4.9
Ecce homo, 1889
4.10
Dionysos-Dithyramben, 1889
4.11
Nietzsche contra Wagner, 1889
4.12 Der Wille zur Macht
[1] [2] [3], posthum ab 1901
4.13
Aus dem Nachlaß



4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie - Der Wille zur Macht (1/3)

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. .... Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 3

„Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 3-4

„Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte« war .... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 4

„Es ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 7

„Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die kein Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten, endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 7

„Die Undurchführbarkeit einer Welauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist, erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Werteauslegungen falsch sind. Buddhistischer Zug, Sehensucht in's Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwickelung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert, der Irrtum also die Strafe- eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volkstümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (neben ihren Versuchen ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-
Wissenschaftlichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle »Prinzipien« nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit und Unaufrichtigkeit u.s.w.. Der Nationalismus. Der Anarchismus u.s.w.. Strafe. Es fehltv der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«, d.h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absulute Unorginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 9

„Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 9

„Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel, es fehl die Antwort auf das »Warum«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 10

„Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt, hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen. – Diese Einsicht ist ein Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«, somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 10

„Unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit : diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 11

„Die obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese sozialen Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Kommandos Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All damit entwertet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 11-12

„Die nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: das Egoistische ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen). Das Notwendige ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben nicht erreichen - damit hat die andre Sphäre, in der wir leben noch keineswegs an Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher« .“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 12

„Hinfall der kosmologischen Werte
A.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen .... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird. .... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).
Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts-und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«: und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. .... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen« ..., aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert glauben zu können.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ....
– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden .... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus ....
B.
Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten.
– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.
– Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 12-16

„Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die extremste Form des Nihilismus wäre; das jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten notwenig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt nötig haben). – Daß es das Maß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Notwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zugrunde zu gehen. Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein. “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17

„Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17

„Inwiefern der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werte, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgingen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren jahrtausendelang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel). – Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältnis zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nötig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf – er schlich sich durch .... (Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nötig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17-18

„Jede rein moralische Wertsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 19

„Die Frage des Nihlismus »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer andern Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emanzipiert von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Ziels, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben, man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der meisten.
Man sagt sich:
1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nötig,
2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.
Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 19-20

„Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisiert ins Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschheit nicht. – er läßt sie fallen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist zweideutig:
A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.
B. Nihilismus als Niedergang, als Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zugrunde .... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein .... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: – das Nein der Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung durch die Hand.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 21-22

„Ursachen des Nihilismus:
1. Es fehlt die höhere Spezies, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrechterhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)
2. die niedere Spezies (»Herde«, »Masse«, »Gesellschaft«) verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werten auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisiert: insofern nämlich die Masse herrscht, tyrannisiert sie die Ausnahmen, so daß diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.
Alle Versuche, höhere Typen auszudenken, manquiert (»Romantik«; der Künstler, der Philosoph; gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten Moralwerte zuzulegen). Widerstand gegen höhere Typen als Resultat. Niedergang und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie« usw.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maßstab für die Höhe der Seele.
Es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 22-23

„Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 23

„Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des Menschen im Menschen erzeugt hat.
Jetzt ist alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:
a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus: »Gleichheit der Person«);
b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);
c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;
d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;
e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);
f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;
g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 24-25

„Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 27

„Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus .... Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Wert des Lebens schlechterdings nicht am Maße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«, »warum sind die Tränen? ...« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 27-28

„Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zurecht bestehen soll .... Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegenteils für uns unlösbar ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 28

„Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werte. Scholastik der Werte. Die Werte, losgelöst, idealistisch, statt das Tun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurteilend gegen das Tun. Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich. Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, wertvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Konto ihrer Verwerflichkeit. Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werte übrigbehalten – und nichts weiter! Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1. die Schwachen zerbrechen daran;
2. die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;
3. die Stärksten überwinden die richtenden Werte.
Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 28-29

„Grundansicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen. Damit verändert sich die ganze Persprektive der moralischen Probleme. Der ganze Moral-Kmpf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivität, als überflüssig: – es gibt keine »Besserung« (gegen die Reue). Die décadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus. Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität. – Wir verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.. (Die Kur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Zivilisation seine natürliche Feindin sah.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 31

„Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u.s.w., die gebrochene Widerstandskraft, moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demut vor dem Feinde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 35

„Gesundheit und Krankheit sind nicht wesentlich Verschiedenes, wie es die ... Mediziner und ... einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das zu nichts ... taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonbie der normalen Phänomene konstituieren den krankhaften Zustand. So gut »das Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 35

„Man will Schwäche: warum? ..., meistens, weil man notwendig schwach ist. – Die Schwächung als Aufgabe. ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 36

„Theorie der Erschöpfung. – Das Laster, die Geisteskranken (resp. die Artisten...), die Verbrecher, die Anarchisten – das sind nicht die unterdrückten Klassen, sondern der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Klassen .... Mit der Einsicht, daß alle unsre Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper« ist, sondern ein krankes Konglomerat von Tschandalas – eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren. Inwiefern durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer geht:
die moderne Tugend}als Krankheits-Formen,
die moderne Geistigkeit
unsre Wissenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 39

„Der Zustand der Korruption. – Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der christlichen; -naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption: wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe. Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen, -man muß das christlich-nihilistische Wertmaß überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen .., z.B. aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus (- alles Formen des christlichen Wertideals -). Entweder eins oder das andere ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend. .... Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 39-40

„Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerierten ist: das Wachstum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich. Woran hängt es, daß die Menschheit korrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? – Der Leib geht zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien für die Degenerierten und Schlechtweggekommenen. Es gibt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente gibt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 40

„Es gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsre ganze Soziologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt. Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale : sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich. .... Der Herdeninstinkt sodann - eine jetzt souverän gewordene Macht - ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät: und es kommt auf den Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat .... Unsre ganze Soziologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde, d.h. der summierten Nullen, - wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein .... Die Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens. .... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg. .... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent, - er ist es auch als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 41

„Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt. Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht, was erschöpft. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt .... Dies sind alles Werthe der Erschöpften. Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urteile Erschöpfter in die Welt der Werte eingedrungen seien. Mein Ergebnis war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werturteile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urteile Erschöpfter. Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche infiziert ..., ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist. Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher als irgendein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence .... Man soll das Verhängnis in Ehren halten, das Verhöängnis, das zum Schwachen sagt »geh zugrunde!« Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängnis widerstrebte, – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte .... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen .... Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels .... Die Tugend ist unser großes Mißverständnis. Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn? ...“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 41-43

„Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 43

„Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werte‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 43-44

„Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 44

„Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 44-45

„Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 45

„Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 45-46

„Vielmehr umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie jedem einen unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demut usw.. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zugrunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben – und zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 46

„Das Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (– gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 46

„Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben« – daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47

„Die »Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott, Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff der Kausalität usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47

„Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Wert einer solchen Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47-48

„Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren. – Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 48

„Perioden des europäischen Nihilismus.
Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das Neue nicht fahren zu lassen.
Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren –, daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.
Die Periode der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.
Die Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken. –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 49

„Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.
Die Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« –.
Der Niedergang der Familie.
Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.
Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).
Geilheit und Neurose.
Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?
Der Anarchist.
Menschenverachtung, Ekel.
Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –
Nordische Unnatürlichkeit.
Das Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter– »Not«.
Der philosophische Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 51

„Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im ganzen also das Übergewicht der Herde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich:
1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);
2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);
3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 51-52

„Im großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß ies im allgemeinen nicvht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 53

„Der zweite Buddhismus. Die nihilistische Katastrophe, die mit der indischen Kultur ein Ende machte - Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 54

„Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem Zeitalter den Charakter geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 54

„Nihilistischer Zug.
a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Wertschätzung gewagt!)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 56-57

„Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit“ sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d.h. man will loskommen von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«, d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 63-64

„Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts – wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist .... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 .... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal. Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? .... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? .... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 65

„Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall,-vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 72

„Gegen Rousseau. – Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen, »der Mensch ist ein Raubtier«, haben leider nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisierung ist der Fluch. In der Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und wohlgeratene Art Mensch (– die, welche noch die großen Affekte ungebrochen hatte: Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren). Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren, worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten Eitelkeit – beides Anzeichen, daß es am dominierenden Willen fehlt: er moralisiert und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rankune-Mensch in den herrschenden Ständen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 73

„Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit; der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur nähert (– nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. .... Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. .... Romantik á la Rousseau: die Leidenschaft (» das souveräne Recht der Passion«), die »Natürlichkeit«; die Faszination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Rankune als Richterin (»in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 74-76

„Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden sin, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf umd Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit konzipierend;
Goethe, indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 78

„Wagner resümiert die Romantik, die deutsche und die französische –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 79

„Grundsatz: es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 81

„Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Wert-Gefühl, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Verallgemeinert: Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs-, Wachstums-Beziehungen einer viel frühren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 81

„Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zueinander gehören? Ob es aus einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale und deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas Höheres – Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilismus könnte ein gutes Zeichen sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82

„Gesamt-Einsicht. – Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auchein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentliches Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus. der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82

„A.
Von einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: – sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice –. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft« usw.). Dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig: – es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.
B.
Der Glaube an den »Fortschritt« – – in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung; in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes. Schilderung der Symptome. Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in betreff der Wertmaße. Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«. Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82-83

„Tatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig: das Leben ist nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen, vom Wert des Übels usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 83

„Wenn irgend etwas unsere Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es,daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr brauchen .... Wir dürfen die Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht; wir haben ein Recht auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 83-84

„Die Umkehrung der Rangordnung. – Die frommen Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandalas: – sie nehmen die Stellung der Scharlatane, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser »Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat. Dagegen ist der Tschandala von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen –. Wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«... Wir alle sind heute die Fürsprecher des Lebens –. Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen uns... wir konstruieren die Welt nach unserm Bilde –. Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten, Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften – die gesamte Sphäre, wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginiert wird .... Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 84-85

„Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das achtzehnte (– im Grunde führen wir guten Europäer einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert –):
1. »Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden, als es Rousseau verstand; – weg vom Idyll und der Oper!
2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär;
3. immer entschiedener die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend: letztere als einen Zustand infolge der ersteren begreifend, diese mindestens als die Vorbedingung der Gesundheit der Seele.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 85

„Wenn irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere, wohlwollendere, Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine Tor« wenig glauben findet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 85

„Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments). >Nicht „Rückkehr zur Natur“: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und widernatürlicher Werte ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe — er kehrt nie »zurück« .... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßgen: man macht Jagd auseinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntnis: wir haben die Libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner „Pflicht“ zu reden. Aber man schätzt eine hilfreiche wohlwollende Gesinnung (– man sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe –).
Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld« »Vernunft« »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch »verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert, ohne sich zu erregen.
In summa: es gibt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Zivilisation, welche er perhorreszierte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 87-88

„Kultur contra Zivilisation. – Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen (»Zivilisation« –) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 88-89

„Wovor ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit Humanität zu verwechseln: die auflösenden und notwendig zu décadence treibenden Mittel der Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln; die Libertinage, das Prinzip der »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprinzip).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 89

„Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem der Zivilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, »unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender – und insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«. – Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitsteilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten auseinander: so daß die Gesamttatsache nicht ohne weiteres in die Augen springt .... Es gehört zur Stärke, zur Selbstbeherrschung und Faszination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente ins »Gute«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 89

„Daß man den Menschen den Mut zu ihren Naturtrieben wiedergibt –.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90

„Fortschritt zur »Natürlichkeit«: in allen politischen, auch im Verhältnis von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien. handelt es sich um Machtfragen –, »was man kann«, und erst daraufhin, was man soll.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90

„Der Sozialismus – als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, der Oberflächlichen, der Neidischen und der Dreiviertels-Schauspieler – ist in der Tat die Schlußfolgerung der »modernen Ideen« und ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, – aber man folgert nicht mehr. Deshalb ist der Sozialismus im Ganzen eine hoffnungslose, säuerliche Sache; und nichts ist lustiger anzusehen als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern, welche heute die Sozialisten machen – und von was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis ab! – und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten. Dabei kann es doch an vielen Orten Europas ihrerseits zu gelegentlichen Handstreichen und Überfällen kommen: dem nächsten Jahrhundert wird es hie und da gründlich im Leibe »rumoren,« und die Pariser Kommune, welche auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher hat (z.B. in dem philosophischen Grimassen-Schneider und Sumpfmolch E[ugen] D[ühring] in Berlin), war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem, was kommt. Trotzdem wird es immer zuviel Besitzende geben, als daß der Sozialismus mehr bedeuten könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind wie Ein Mann Eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein.« Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde hinzufügen »man muß mehr haben wollen als man hat, um mehr zu werden.« So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt, durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber. In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung des Lebens«; es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde ist groß genug, und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum, selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen und bezahlt würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in die Dummheit rollenden Gesellschaft wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit, Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, – er schützt Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90-92

„Die günstigstren Hemmungen und Remeduren der Modernität:
1. die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß aufhört;
2. die nationale Borniertheit(vereinfachend, konzentrierend);
3. die verbesserte Ernährung (Fleisch);
4. die zunehmende Reinlichkeit und Gesundheit der Wohnstätten;
5. die Vorherrschaft der Physiologie über Theologie, Moralistik, Ökonomie und Politik;
6. die militärische Strende in der Forderung und Handhabung seiner »Schuldigkeit« (man lobt nicht mehr ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 92

„Die Verkleinerung und Regierbarkeit der Menschen wird als »Fortschritt« erstrebt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 93

„All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das ist seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 99

„Der unfreie Wille bedarf eines fremden Willens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101

„Der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, – er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte sich der Mensch, – er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101

„Er hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101-102

„Die Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Ein Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Versuch, vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen. – Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, – sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern – Gott – die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103

„Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht, – auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß er unverletzlich ist, unangreifbar –, daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel: er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet. Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters, z.B. die des Kriegers. Konsequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche; – Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. – Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist .... Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti (d.h.: hisnischtlich der Keuschheit; Anm. HB) wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103-104

„Der Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus: – hat dessen Erbschaft im Leibe; – ist, selbst noch als Rivale, genötigt, um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit; – er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität, wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen überhaupt ...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere Gewalt in den Händen zu haben – Gott –. Es ist nichts stark genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,
2. daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.
Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«; die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern Gott [oder gar keinen; Anm. HB] glaubt –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 104-105

„Kritik der heiligen Lüge. – Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften – wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen, in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ....
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? – Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben.
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.
Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das Jenseits, das »Nach-dem-Tode« – wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen.
– Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes. – Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind, – nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die Folge »härtester Bußübungen«.
Die heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a) auf den Zweck der Handlung (– der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck –): (b) auf die Folge der Handlung (– die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt).
Auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«, »lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint – er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.
Auf diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser Absicht mit dem »Gesetz«.
Die heilige Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt; – 2. ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird – zu diesem Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; – 3. das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht – daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der priesterlichen Vorschrift anrät; – 4. die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; – 5. die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? – Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre – eine Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; – in summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine Probleme mehr; – die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee; – das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht; – der Begriff »Gott« stellt eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar; – die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 105-108

„Zur Kritik des Manu-Gesetzbuches. – Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern – woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht .... Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen. Die Macht durch die Lüge – in Einsicht darüber, daß man sie nicht physisch, militärisch besitzt .... Die Lüge als Supplement der Macht – ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug... Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung .... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte. – »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« – über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar. Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist .... Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 108-109

„Im arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist ... „Priester-Geist“ schlimmer als irgendwo.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Der Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits« als Straf-Organ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze – dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation – muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. – Noch Plato: aber vor allen die Ägypter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109-110

„Die Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer, hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des Christentums ..., einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt –.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das neue Testament (– nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende arische Religion, gewachsen unter den herrschenden Ständen: der Buddhismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zugrunde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110-111

„An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu tun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen Religion sind beide wesentlich moralische Religionen – solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

„Heidnisch – christlich. – Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

„»Unschuldig« ist z.B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche Status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene Falschmünzerei der psychologischen Interpretation ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

„Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit: man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z.B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten Athens die Gegenwart der geschlechtlichen Symbole empfunden wurde. Der Akt der Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht, der Zukunft: der Wiedergeburt, Unsterblichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111-112

„Die große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 112

„Buddha gegen den „Gekreuzigten“. – Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf auseinander halten: die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, – es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (– Herkunft aus den obersten Kasten –.) – Die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden .… Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alle Wohlgeratene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt .... Sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgeratene, das Herrschaftliche.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 113-114

„Im Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« – nur insofern wird gewarnt vor dem Bösen. Denn Handeln – das hat keinen Sinn, Handeln hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint. Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie alle Antriebe seitens der Affekte. Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein! – Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus: nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt, unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem Handeln loszukommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 114-115

„Das Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt. Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«. Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben). Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt... er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert .... Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie – einen herrschenden Stand, auch eine Kirche. Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste Übertreibung des Personal-Egoismus. Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 119-120

„Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat – und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 120

„Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode – das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß. Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben. Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten, Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«, »Strafe«, »Belohnung« – alles ganz unbeträchtlich und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum – kommt jetzt in den Vordergrund. Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus; das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 120-121

„Das Christentum hat von vornherein das Symbolische in Kruditäten umgesetzt:
1. der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;
2. der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als »Personal-Unsterblichkeit«;
3. die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;
4. die »Auferstehung –« als Eintritt in das »wahre Leben«, als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt;
5. die Lehre vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit« – gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten;
6. die Erlösung durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt in den Glauben, daß man an irgendeine wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ..., er war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten habe – nicht sich wehren .... Darin lag das Vorbild.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 121-122

„Man muß das „Kreuz“ empfinden wie Goethe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 128

„Zum psychologischen Problem des Christentums. – Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt). Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber. Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das –. Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 130

„Genauso so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen: dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 133

„Das Christentum zog die letzte Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen Priestertum empfand es noch die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen – es strich den Priester aus. – Der Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt .... der Tschandala, der sich selbst erlöst .... Deshalb ist die französische Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums ..., sie hat den Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten Privilegien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 134

„Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes – auch heute noch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 134-135

„Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christentum der Zeremonien und Stimungen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 137

„Das Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand. Tatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte: 1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium), 3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende, überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.
Wir haben also als Mißverständnis:
1. die Unsterblichkeit der Person;
2. die angebliche andere Welt;
3. die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;
4. die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft;
5. die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen, einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;
6. eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;
7. das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder ist, seine relative Rationalität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 139-140

„Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: – wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische (– nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden auf – gerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden –); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen... Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch – angemuckert war (– in Ägypten?).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 143

„Diese kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern – vorausgesetzt, daß man nicht vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert. Die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert werden – wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten! Die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll: als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 144

„Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit zu wissen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 150

„Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offensteht, – daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre. Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt – alles typisch für die Sozialisten-Lehre. Im Hintergründe der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«, der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken .... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat ....)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 150-151

„Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche »Naturwissenschaft«. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen. Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden« – der wäre Christ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 152

„Zur Geschichte des Christentums. – Fortwährende Veränderung des Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht .... Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute .... Die Entwicklung der Caritas .... Der Typus »Christ« nimmt schrittweise alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen Negation er bestand –). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler, Patriot, Politiker, »Fürst« ..., er nimmt alle Tätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat (– die Selbstverteidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen, das Zürnen ...). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben, von dem Christus die Loslösung predigte .... Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus .... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 153

„Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (– Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, – Orient...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 153

„Das Christentum als eine Entnatürlichung der Herdentier-Moral: unter absolutem Mißverständnis und Selbstverblendung. Die Demokratisierung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene. Tatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.
Erste Stufe: sie machen sich frei – sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.
Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.
Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (– sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber).
Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie ....
Im Christentum sind drei Elemente zu unterscheiden:
a) die Unterdrückten aller Art,
b) die Mittelmäßigen aller Art,
c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art.
Mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen und Privilegierten (geistig, sinnlich –) jeder Art; mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen. Wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen der Überwältigung der Menge), – und jetzt ist es der Herden-Instinkt, die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (– gewinnt den Mut zu sich –), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht .... Die Demokratie ist das vernatürlichte Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden werden konnte. – Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«, »Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der Ausnahme, Genie usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 154-155

„Krieg gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit« und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten. Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! – man blättere alle Helde Plutarchs durch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 156

„Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:
1. Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal? – Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis –; das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch (– hier ergibt sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums –).
2. Ist es realisierbar? – Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie das indische. Beiden fehlt die Arbeit. – Es löst heraus aus Volk, Staat, Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab, was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht – es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv noch defensiv, – nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt ....
3. Es bleibt eine Konsequenz des Willens zur Lust – und zu nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, – alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck ....
Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen .... Dies ist eine arme Denkweise, Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen lassen. (»Werdet wie die Kinder« –. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 157-158

„Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Wertmaße als oberste zu gelten anfangen (– physiologische Ermüdung, Willens- Verarmung–). Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 158

„Gott schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz .... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat! .... Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist – Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen –, das hat die Kirche um so bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde« – nicht durch sein Tun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die Tat der Erlösung freigekauft – folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch .... Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsternis nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe. »Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« – diese Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor allem zu kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und, christlich geredet, die Erkenntnis ...) wider die höchste Wünschbarkeit? – Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«, »Unsterblichkeit« – – – .“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 159-160

„Es fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder« fehlt – es gibt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische). Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies, nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«. Es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben: – es will nichts; – eine Form der »epikurischen Götter«; – es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen, – Kinder zu haben: – Alles ist erreicht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 160

„Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es lann selbst ein MIttel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank zu machen. Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen. Der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180

„Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich dekadent), wie es die Zeit Buddhas war .... Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichen Ausgeburten des antiken Hybridismus).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180

„Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil und Genuß dieses Irrtums habe: – es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden solle – also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«. Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig: weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180-171

„Damit, daß das Christentum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwertig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (– bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer .... Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr, nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht .... Diese allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern (– sei es in mönchischer und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten, als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe« im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt? .... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt, will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 174-176

Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein konsequenter Nihilismus der Tat. – So wie ich alle Phänomene des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein«. Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur. Was über alle Begriffe dagegen zu verurteilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht. – Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen kontagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetieren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz –). Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord .... Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 176-177

„Die christlichen Moral-Quacksalber. – Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum zur Pflicht gemacht – zur Tugend –, der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisiert als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch ....
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, alles, was über ihn Herr werden und ihn zugrunde richten kann, ist böse, ist verwerflich – ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen in Demut und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«, – das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 177-178

„Wogegen ich protestiere? Daß man nicht diese kleine Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß des Menschen. Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, suprematum sensus nullus. Das Christentum aber gehört, als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 178

„Sehen wir, was »der echte Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerrät: – die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen – in summa der ganzen Kultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 178

„Man hat bisher das Christentum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christentums – sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Wertfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christentums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es gibt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren – nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (– dieser Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kritizismus«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 179

„Man soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen, sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet – und die Stärksten haben müde Stunden –, wie als ob alles das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt – bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgibt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 179-181

„Versuch, über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist – die sich fortwährend beweist – durch Leitung des einzelnen und allgemeinen –: dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle stammen. Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt geworden. Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott) die Lücke auszufüllen. Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden« offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben –, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,
1. Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen Bewegung);
2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn der historisierenden Bewegung).
Man sieht: es ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist. Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als Problem erreicht. Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus, der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen, aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.) Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (– der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 182-184

„Die Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

„Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf? – Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

„Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht »entstanden«? – Antwort: das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt aus? – Unsre Affekte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

„Alle Tugenden physiologische Zustände: .... Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte Leidenschaften und erhöhte Zustände.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184-185

„Ich verstehe unter »Moral« ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Ehemals sagte man von jeder Moral: »an ihren Früchten solt ihr sie erkennen«. Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.« “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Mein Versuch, die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten, – eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen Instinkte soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend oder Verwelken usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urteile sind Zeichen von Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Mein Hauptsatz: es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185-186

„Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretiert haben? – Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen andern Wertschätzungen stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann Erkenntnis usw., usw.???“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 186

„Einsicht: bei aller Wertschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens, einer Kultur. – Vermöge des Vergessens, daß es nur ein perspektivisches Schätzen gibt, wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in einem Menschen. Das ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen im Gegensatz zum Tiere, wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. Dies widerspruchsvolle Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntnis: er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich zur Gerechtigkeit – zum Begreifen jenseits des Gut- und Böse-Schätzens. Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns! Eine Art planetarischer Bewegung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 186

„»Wollen« ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck« enthält eine Wertschätzung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Umfang der moralischen Wertschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt dadurch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Wir haben die Zwecke und die Werte hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente Kraftmasse dadurch in uns: aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich, daß Entgegengesetztes als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln existierten (also nichts »an sich« wertvoll).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Analyse der einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die Aufstellung von Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft irrtümlicher): zur Erhaltung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Betrachtung der jetzigen Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene Werturteile handhaben, und daß keine schöpferische Kraft mehr darin ist – die Grundlage: »die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen Urteile jetzt. Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft. – Es wird willkürlich. Chaos.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Wer schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral: sich ein Ziel geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Was ist das Kriterium der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit, 2. ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studieren und zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was sich darin ausdrückt: ein Glaube »ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«. Unmoralisch heißt »untergang-bringend«. Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zugrunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen worden, weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie – wieder nötig hatte, z.B. »Du sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die Gesellschaft (z.B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen: oder »das größte Glück«, philosophisch geredet. Denn auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer poliV.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Das Problem der Moral sehen und zeigen – das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich bestreite. daß das in der bisherigen Morlaphilosophie geschehen ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Wie falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Es fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urteil durchgemacht hat und wie wirklich mehrere Male schon im gründlichsten Sinne »Böse« auf »Gut« umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Worte »Sittlichkeit der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Herden-Gewissensbiß.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 189

   „A. Moral als Werk der Unmoralität.
1. Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen.
2. Die Entstehung moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.
   B. Moral als Werk des Irrtums.
   C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.
Vergeltung. – Wahrhaftigkeit, Zweifel, epoch, Richten. »Unmoralität« des Glaubens an die Moral.
Die Schritte:
1. absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen und gerichtet.
2. Versuch einer Identifikation von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.
3. Entgegensetzung von Leben und Moral: Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.
   D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:
a) dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw.,
b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens,
c) der Erkenntnis des Lebens,
d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte.
   E. Gegenrechnung: ihre Nützlichkeit für das Leben.
1. die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: nützlich für das »Werkzeug«.
2. die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.
3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich für den »Leidenden«.
4. die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: nützlich für den »Niedrigen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 189-190

„Denken wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet haben! “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 190

„Zwei Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt – und eine andere Moral, mit der eben diese décadence sich formuliert, rechtfertigt und selber abwärts führt. Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu sein (– der Stoizismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral); die andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse, sie hat die Weiber und »schönen Gefühle« für sich (– das erste Christentum war eine solche Moral).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 190-191

„Meine Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt; zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist –; wie umgekehrt alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens notwendig auch den Fortschritt der Unmoralität bedingt. »Wahrheit« der Grad, in dem wir uns die Einsicht in diese Tatsache gestatten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 193-194

„Zuletzt sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen: Ein Physiologe, der sich für eine Krankheit interessiert“, und ein Kranker, der von ihr geheilt werden soll, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal an, daß jene Krankheit die Moral ist – denn sie ist eine Krankheit – und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch deren neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von der Frage, ob wir es können? Ob wir »geheilt« werden können?
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 194

„Wessen Wille zur Macht ist die Moral? – Das Gemeinsame in der Geschichte Europas seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werte zur Herrschaft über alle anderen Werte zu bringen; so daß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch
1. der Erkenntnis,
2. der Künste,
3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen.
»Besserwerden« als einzige Aufgabe, alles übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr; folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...). – Eine ähnliche Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 194

„Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werte , der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat? Antwort: – drei Mächte sind hinter ihm versteckt:
1. der Instinkt der Herde gegen die Starken und Unabhängigen;
2. der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen;
3. der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen. –
Ungeheurer Vorteil dieser Bewegung, wieviel Grausamkeit, Falschheit und Borniertheit auch in ihr mitgeholfen hat ( : denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 195

„Die großen Dekadenz-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch die Herde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 200

„Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet, nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Herde soll in der Herde herrschen, – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Herde bedürfen einer grundverschiedenen Wertung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere« usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 203

„Es ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde« wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind. Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen« kann in einem Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter, auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden (– oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.) “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 206-207

„Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert. Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen, Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 208

„Moralistischer Naturalismus: Rückführung des scheinbar emanzipierten, übernatürlichen Moralwertes auf seine »Natur«: d.h. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche »Nützlichkeit« usw.. Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als moralistischen Naturalismus bezeichnen: meine Aufgabe ist, die scheinbar emanzipierten und naturlos gewordnen Moralwerte in ihre Natur zurückzuübersetzen – d.h. in ihre natürliche »Immoralität«.
– NB. Vergleich mit der jüdischen »Heiligkeit« und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverän gemachten Sittengesetz, losgelöst von seiner Natur (– bis zum Gegensatz zur Natur –). Schritte der ntnatürlichung der Moral (sogenannten »Idealisierung«:
als Weg zum Individual-Glück,
als Folge der Erkenntnis,
als kategorischer Imperativ,
als Weg zur Heiligung,
als Verneinung des Willens zum Leben.
(Die schrittweise Lebensfeindlichkeit der Moral.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 210-211

„Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus pur ... ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten (– und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten, zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster und kapitaler Fehler eines Moralisten,—als welcher Immoralist der Tat zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: Herrschaft der Moral – so lautet jener Kanon. Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er tut, muß er sub specie boni tun,—sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der gute Gott.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 213-215

„Mit der Tugend selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend selbst verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

„Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen« Mittel errungen wie jeder Sieg: gewalt, Lüge, verleumdung, Ungerechtigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

„Die Moral ist gerade so »unmoralisch« wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

„Die Moral in der Wertung von Rassen und Ständen. – In Anbetracht, daß Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren Existenzbedingungen ausdrücken (– zum mindesten von den Bedingungen, unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben), heißt verlangen, daß sie »tugendhaft« sind:
daß sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen:
heißt, daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden:
heißt, daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen – deutlicher: daß sie zugrunde gehn.
Der Wille zu einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art, der diese eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Arten: es ist die Vernichtung oder die Uniformierung zugunsten der herrschenden (sei es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden). »Aufhebung der Sklaverei« – angeblich ein Tribut an die »Menschenwürde«, in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen Spezies (– Untergrabung ihrer Werte und ihres Glücks –). Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (– seine »Tugenden« werden verleumdet und umgetauft). Es gilt als Einwand gegen Mensch und Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm erwünscht, weil wir solche sind, von denen man Nutzen haben kann. Die Forderung der »Vermenschlichung« (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel »was ist menschlich?« glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Herden-Instinkt. – »Gleichheit der Menschen«: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen gleichzusetzen. Die »Interessiertheit« in Hinsicht auf die gemeine Moral. (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protektoren der Tugend zu machen.) Inwiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß, es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen: der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend. Insgleichen der Staat und jede An Herrschaft in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu arbeiten. – Insgleichen die Priesterschaft. – Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vorteil errungen wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die Unmoralität – nach welchem »Rechte«? Nach gar keinem Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Klassen bedienen sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 217-219

„Moralinfreie Tugend ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 221

„Die Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind, so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

„Die Naivität in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«, – während amn das »Warum«“ des Menschen nicht kennt.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

„Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie gibt vor, etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

„Daß die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls- Gebilde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 232

„Unter der Gewalt des christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über das, was dem einzelnen not tue, gab es keinen Zweifel .... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden einzelnen, wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Wert, Sinn, Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott .... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt .... Das Schwergewicht des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammnis! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung .... Für jede Seele gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen Weg zur Erlösung... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige .... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 232-233

„Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Wert des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei .... Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt,
erstens, zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;
zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist;
drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ...
Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 233-234

„Verstecktere Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern auf-gebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge usw.. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus .... Der weichliche und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Kultus-Gegenstand .... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen .... Die Freidenker, z.B. Guyau. Der weichliche und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierrys): es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals. Und nun gar das ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis jenes christlichen Moral-Ideals.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 234

„Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.
A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab –). Der höchste Typus: das klassische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.
B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).
C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder wünschen (– man negiert, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische; der Zustand dessen, der so urteilt (– die »Verarmung« der Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.
(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)
Die drei Ideale:
A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder
B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder
C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle – in der zartesten Auswahl – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 234-236

„A. Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh. Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen, welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.
B. Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden .... Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.
C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene »Hornochs«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 236-237

„Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen
a) durch eine untergeschobene Herkunft,
b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen,
c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht rede,
d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale,
e) durch eine lügnerische Lehre des Vorteils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.
Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst – sie sind allesamt »unmoralisch«. Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 237-238

„Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentieren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 238-239

„1. Der angeblich reine Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre Moral– »Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig ....
2. Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 239

„Moral als Verführungsmittel. – »Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die »Verderbnis der Menschen« zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen – man muß sie vernichten« –; die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht). Man vergleiche die verwandte Logik Luthers. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfnis als moralisch – religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen ... (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester). Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 239

„Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend. – Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein .... Was wünscht da eigentlich?
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe, was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt – sie verneint tatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.
Und selbst hier noch behält das Leben recht – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß –: was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen, nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten, vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt .... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 241-244

„Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)? Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurteilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst Wert haben .... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz solcher Eigenschaften verurteilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? – Das wird jedenfalls geglaubt .... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit, die Borniertheit des Winkel-Egoismus. Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist – so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden und langsam ausstürben? Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d.h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«? Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nötig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat. Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften verlangt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 244-246

„Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D.h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten, als Maßstäbe von Zielen... d.h. eine bestimmte Spezies Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisiert .... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 246

„Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

„Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

„Der ideale Sklave (der »gute« Mensch). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

„Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (samt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale .... Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen, die es gibt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 248-249

„Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse
1. derer, denen genützt, geholfen wird, der Herde;
2. enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens;
3. möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht;
4. will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger;
5. bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 249

„Ursprung der Moralwerte. – Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat. Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas das mit der Geburt beginnt):
Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachstums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt).
Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratenen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, – sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urteil ( – die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urteile ist immer ein Zeichen niedriger Kultur – ): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiment erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Sozialisten, ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle .... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eigenen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.
Wenn der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: »die Welt« wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 252-255

„Die Verinnerlichung des Menschen. – Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach außen versagt wird, sich nach innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfnis nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennenwollen ist Habsucht und Erobern: im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen es Kampf gibt usw.,“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 255-256

„Der Mächtige lügt immer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 257

„Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen, er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Wert der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens .... Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Wertung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Spezies als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Kopie, eine gute Kopie bestenfalls, – das Maß seines Wertes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung .... Ich schätze die Macht eines Willens danach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vorteil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher .... Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte, war, zur Erkenntnis zu kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon tut .... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Wert (als Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerte. – Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit .... Ich brauche eine Kritik des Heiligen .... Hegels Wert. »Leidenschaft«. Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Wert: z.B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation redet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 259-260

„Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert darstellt als der wünschbare Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit“ solchen Ursprungs bis jetzt den Wert des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgwißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht;daß die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und mensch-verleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war ....
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„Maßstab, wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist. Die übersehene Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch. Homo natura. Der »Wille zur Macht«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„Die Moralwerte als Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„»Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im großen betrachtet, z.B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmütigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? .... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit, Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten« mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 268-269

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen .... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 270

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 270

„Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271

„Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern» wollen .... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten« Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271

„Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:

a) daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man getan hat .... Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ....

b) daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden .... Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271-272

„Das sind meine Forderungen an euch – sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen –: daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?« Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«, nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen, sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? – Vor welchem Forum?«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 272

„Die drei Behauptungen:

Das Unvornehme ist das Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«);

das Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen);

das Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).

In der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen günstigsten Werturteile durchzusetzen. Insofern ist das Phänomen der Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen und Privilegierten in irgendeinem Sinne. Die Moral ist also eine Gegenbewegung gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) – Sinnlosigkeit, Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten empfunden werden) – Entartung und Selbstzerstörung der »höheren Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 272-273

„Welche Werte bisher obenauf waren.

Moral als oberster Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern). Resultat: diese Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt« geben. Was bestimmt hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der Instinkt der décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen und die Herren machen .... Historischer Nachweis: die Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen Religionen. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Vorführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel. Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 273-274

„Warum die gegnerischen Werte immer unterlagen

1. Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion des Ja? .... Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen: Die heidnische Religion. Dionysos gegen den »Gekreuzigten«. Die Renaissance. Die Kunst.

2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere ist .... Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme in der Geschichte des Lebens? – Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit« geworden, sind »Institutionen« ....

3. Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 274

„Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte geworden .... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben! – Ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren? – ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des Lebens, eine Tempo-Verzögerung? eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres? – Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen geworden: ziehen wir die Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden! Eine Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge: sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre dies vielleicht wünschenswert? – und möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 274-275

„Wir haben zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall: wir hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als eine »erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«. Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung –: es war numerisch stärker. Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt ist. Wiederherstellung der Natur: moralinfrei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 275

„Moral ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 275

„Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn, als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen Irrtums nötig zu haben. – Falls man das Dasein moralisch beurteilt, degoutiert es. Man soll nicht falsche Personen erfinden, z.B. nicht sagen »die Natur ist grausam«. Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!

Entwicklung der Menschheit.

A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. (Die Moral war nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und »wildem Tier«.)

B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276

„Moral als Illusion der Gattung, um den einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Wert zugestehend, so daß er mit diesem Selbstbewußtsein andere Seiten seiner Natur tyrannisiert und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist. Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängnis werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur Moralverneinung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276

„Inwiefern die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts, was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?« noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden – es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite, wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um eine neue Welt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276-277


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