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Am 6. Mai 1856 wurde Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, geboren. Die Diskussionen um seine Arbeit werden 150 Jahre später kontroverser denn je geführt.
Sein Leben sei "äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen". Mit diesen Worten speiste er einen Biografen ab. Und in der Tat, ihn selbst interessierte nur sein Lebenswerk: die Psychoanalyse. Wegen ihres modellhaften Charakters ist sie gleichbedeutend mit dem Werk eines Karl Marx. Doch während Marx die ökonomischen Kräfte der Gesellschaft untersuchte, ergründete der Mediziner Freud das, was darunter liegt: die Struktur des menschlichen Seelenlebens.
Es fehlte nicht viel und der Vater der Psychoanalyse wäre in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden. Denn erst 1938 wurde sich Sigmund Freud der Lebensgefahr bewusst, in der er als Jude schwebte, und emigrierte aus dem von Deutschland besetzten Österreich nach London. Nur ein Lebensjahr blieb ihm noch, bevor er am 23. September 1939 an den Folgen eines Mundhöhlenkrebses starb.
Freud und sein Werk
Seine bekannteste Hinterlassenschaft ist die Psychoanalyse. Schon zu seinen Lebzeiten hat sie ihren Siegeszug angetreten. Als Therapie seelischer Krankheiten wird sie heute noch weltweit praktiziert. Mehr noch: Die Lehre vom Unbewussten hat das Selbstbild des modernen Menschen des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt.
Viele Teile des Freudschen Werkes sind in den vergangenen Jahrzehnten überarbeitet worden. Der Psychoanalytiker und Freud-Experte Uwe Henrik Peters vergleicht das Werk Freuds mit einem Automobil, das immer wieder den veränderten Bedürfnissen angepasst wird, dessen Grundkonstruktion aber erhalten bleibt. Seiner Meinung nach ist Freud immer noch der weitaus wichtigste Ideengeber für die gesamte Psychoanalyse: "Nach Freud sind diese und jene Kleinigkeiten hinzugefügt und verändert worden, aber die Grundideen stammen alle von Freud selbst", so Peters.
Denken und Handeln: nicht von der Vernunft geleitet
Freuds wichtigste Erkenntnis: das menschliche Denken und Handeln wird nicht von der Vernunft geleitet, sondern von unbewussten Motiven. In seiner bilderreichen Sprache ausgedrückt: Das "Ich" sei nicht einmal "Herr im eigenen Haus". Was die heutige Gehirnforschung übrigens bestätigt.
Seine Aufgabe als Arzt sah er darin, die Patienten auf ihrem Tauchgang in die Vergangenheit zu begleiten. Ihnen zuzuhören, wenn sie im Schutzraum des Behandlungszimmers - auf der berühmten Couch - frei und unzensiert sprechen konnten.
Denn nichts anderes ist die psychoanalytische Therapie: eine Rede-Kur, bei der der Patient sich letzten Endes selbst heilt. Ohnehin ging Freud, der zeitweise auch unter hysterischen Symptomen litt, davon aus, dass die Grenze zwischen so genanntem krankhaften und normalen Verhalten fließend ist. Ein revolutionärer Gedanke, der aus dem hierarchischen Arzt-Patienten-Verhältnis einen "Forschungsprozess zwischen zwei Personen" gemacht hat, wie der prominente Analytiker Wolfgang Schmidtbauer es heute nennt.
Natürlich war Freud auch nicht frei von Irrtümern. Seine Theorie der weiblichen Sexualität zum Beispiel gilt heute als überholt und selbst seine wichtigste Annahme, dass jeder Sohn in die Mutter verliebt sei und den Vater als Rivalen erlebe, wird von Fachleuten bezweifelt. Peters sieht im Ödipuskomplex nicht die überragende Bedeutung, die Freud ihm zugemessen hat. Allerdings sei Freud "ein Kind seiner Zeit". Er habe seine Werke geschaffen, als die Sexualität fast total tabuisiert war. Allerdings: "Dass Freud die große Kraft und Möglichkeit der Sexualität aufzeigt, ist zeitlos."
Wenn die Psychoanalyse heute nur noch eine unter vielen Formen der Therapie ist, kann man das allerdings nicht ihrem Erfinder anlasten. Denn Freud selbst hat sie nie ausschließlich als Behandlungsmethode verstanden. Er zielte - und das bleibt seine herausragende Leistung - auf eine umfassende Theorie. So erklärt Peters die Psychoanalyse als ein von Freud geschlossenes System, in dem die Funktionsweise der menschlichen Psyche aufgezeigt wird.
Dabei waren Kulturkritik und therapeutische Praxis für Freud nicht zu trennen. Als Wissenschaftler, der auch mythologische und ethnologische Studien betrieb, wollte er Zusammenhänge aufdecken: etwa zwischen individueller Krankheit und deren gesellschaftlichen Ursachen. Als Aufklärer wollte er mit dem System der Psychoanalyse den Menschen zur Selbsterkenntnis führen, ihn befreien von jeglicher Selbsttäuschung.
http://www.dw-world.de • 06.05.06 von Gabriela Schaaf |
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